Seyran Ates über ihre Wahlheimat: „Ich bin keine Minderheit mehr“
Die Deutschen können von den Migranten sehr viel lernen und sollten nicht immer so verklemmt sein, findet die Rechtsanwältin und Autorin Seyran Ates.
taz: Frau Ates, Sie haben 2006 aufgehört, als Anwältin zu arbeiten, und sich nach ihrem letzten Buch „Der Islam braucht eine sexuelle Revolution“ 2009 aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Nun arbeiten Sie wieder in einer Kanzlei in Berlin-Wedding, haben ein neues Buch veröffentlicht. Warum sind Sie zurückgekommen?
Seyran Ates: Seit ich 1984 von einem türkischen Nationalisten in Berlin angeschossen wurde und nur knapp überlebte, denke ich bei jedem Schritt in die Öffentlichkeit darüber nach, was passiert ist und was passieren könnte. Als ich 2009 wieder Morddrohungen bekam, musste ich mich zurückzuziehen – auch um meine Tochter zu schützen. Seitdem hat sich die Welt verändert, es wird ganz selbstverständlich über Ehrenmorde, Zwangsverheiratungen und Frauenrechte gesprochen. Der Arabische Frühling beschäftigt sich mit der sexuellen Selbstbestimmung. Ich bin keine Minderheit mehr.
Ihr neues Buch heißt „Wahlheimat. Warum ich Deutschland lieben möchte“. Woher diese Zuneigung?
In diesem Land kann ich frei und selbstbestimmt leben, als Frau bin ich hier relativ gleichberechtigt. Ich habe hier Dinge erreicht, die ich in der Türkei nicht erreicht hätte. Hier werde ich als Freigeist und Krachmacherin geschützt, anderswo werden Intellektuelle eingesperrt. Ich bin Deutschland emotional verbunden, das Land hält mich fest. Aber unterstellen Sie mir bitte keine nationalistischen Gefühle.
Sie bezeichnen sich als Verfassungspatriotin, was meinen Sie damit?
Das Grundgesetz ist ganz nah an der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, es schützt seine Bürger, steht für Demokratie und Freiheit. Das müssen wir viel mehr wertschätzen und verteidigen.
ist Frauenrechtlerin, Rechtsanwältin und Autorin des Buches „Wahlheimat. Warum ich Deutschland lieben möchte“ (Ullstein Verlag, 176 Seiten, 16,99 Euro). Sie lebt in Berlin. Mit ihrer herben Kritik am Islam und an der multikulturellen Gesellschaft eckt sie oft an. Nach Morddrohungen zog sie sich 2009 aus der Öffentlichkeit zurück.
Selbstverständlich hat es eine anderen Beigeschmack, wenn Sie ein Loblied auf Deutschland singen, als wenn dies ein Urdeutscher macht.
Da möchte ich aufschreien und all die Menschen rütteln, die sich hier zurückhalten. So gut wie sich Deutschland mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt hat, das wünsche ich mir auch für andere Länder – besonders für die Türkei. Wenn ich im Ausland bin und sage, ich bin aus Deutschland, dann durchzuckt es meinen Körper. Ich muss dann an die jüngste Vergangenheit denken, empfinde wie viele Urdeutsche ein Schuldgefühl wegen des Zweiten Weltkriegs.
Dabei haben Sie familiär keine Berührungspunkte mit dem Holocaust, sind erst in den 1970er Jahren hierhergekommen …
Diese Vergangenheit niemals zu vergessen, dafür bin ich in Deutschland sensibilisiert worden. Weil ich ein Teil dieser Gesellschaft bin, fühle ich mich mitverantwortlich dafür, dass so etwas nie wieder passieren darf. Ich bin Deutschland dankbar für die detaillierte Aufarbeitung seiner Geschichte.
2006 klagten Sie, die hiesige Gesellschaft ließe sie allein.
Damals konnte ich einfach nicht mehr. Erst die Hetzkampagne der türkischen Tageszeitung Hürriyet, dann wurde ich vom Mann einer Mandantin angegriffen. Meine Liebe zu Deutschland musste wachsen, nicht immer habe ich Umarmungen erlebt.
Wenn ich Ihnen zuhöre, muss ich an den türkischen Premierminister Tayyip Erdogan denken. „Assimilation ist ein Verbrechen“, sagte der 2010 zu seinen Landsleuten in Köln. Sind Sie deutscher als die Deutschen?
Gerade Herr Erdogan sollte genauer hinschauen, was in meinem Herkunftsland passiert. Integration oder sich in einem Land beheimatet fühlen, bedeutet immer auch ein bisschen Assimilation. Ich bin genauso ein Teil Deutschlands wie der Türkei. Ich will deutsch sein, so wie ich türkisch sein will, wie ich auch kurdisch sein will.
Müssen Sie als Migrantin Deutschland besonders dankbar sein?
Natürlich nicht, ich bin nicht dankbar dafür, dass ich auf Usedom mit dem Heil-Hitler-Gruß davongejagt wurde. Dankbarkeit kann auch dazu führen, dass man sich unterwirft, das mache ich ganz sicher nicht.
Sie sind in der zweiten Generation hier. Es gibt Migranten in der dritten Generation, die sich immer noch fremd fühlen.
Deren Leben ist ja auch schrecklich. Die meisten dieser Menschen haben soziale Probleme, keine Schulausbildung, kein vernünftiges Einkommen. Aber es gibt auch diejenigen, denen es sozial gut geht, die sich aber dermaßen abgelehnt fühlen, dass sie Deutschland als Feindesland betrachten. Sie nehmen nicht wahr, dass die Mehrheit der Gesellschaft sie aufnimmt. Sie sagen nur ja zu dem Sozialsystem oder ihrem Wirtschaftsbetrieb, aber nicht zu Deutschland.
Warum immer wieder diese verbalen Kracher? Sie spitzen gerne zu – auch unsachlich. Bezeichnen etwa muslimische Mädchen als „Sklavinnen auf dem Heiratsmarkt“. Geht es nicht diplomatischer?
Wie soll ich gegen die Befreiung vom Schwimmunterricht, den Jungfrauenwahn und Genitalverstümmelung diplomatisch sein? Wie soll ich da leise Zwischentöne finden? Darf man die Morde durch die NSU oder die angeblichen Pannen beim Verfassungsschutz mit leisen Tönen kommentieren? Einen kulturellen Bonus für Menschenrechtsverletzungen darf es nicht geben.
Haben die Deutschen ein Identitätsproblem?
Die Deutschen können von uns Migranten lernen, was die Wertschätzung der Freiheit und dieser Verfassung bedeutet. Sie können von uns lernen, ihr Land zu lieben, und müssen dabei nicht immer so verklemmt sein.
Deutschland ist aber auch das Land, in dem ein rechtsterroristisches Trio jahrelang unentdeckt morden konnte.
Natürlich, Verfassungsbehörden, Polizei und Gerichte sind teilweise auf dem rechten Auge blind, aber weltweit! Es sei denn, es handelt sich um linke Diktaturen. Die sind auf dem linken Auge blind. Hinter den ganzen angeblichen Ermittlungspannen stecken böswillige, fremdenfeindliche Strategien. Für mich sind das sogar Mittäter. Aber soll ich deswegen ein ganzes Land hassen? Ich hasse auch nicht die Türkei, obwohl sie eine unmenschliche Kurdenpolitik betreibt.
Dennoch haben Sie Ihren türkischen Pass 2012 abgegeben.
Damit habe ich gegen die türkische Politik protestiert, die Intellektuelle einsperrt, und darauf hinweisen wollen, dass der Doppelpass unter den jetzigen rechtlichen Bedingungen nicht nur Vorteile bringt. Für mich persönlich funktioniert der Doppelpass nicht.
„Ich würde sehr, sehr gerne in die Politik gehen. Aber ich habe das Gefühl, dass die SPD Seyran Ates noch nicht will“, sagten Sie mir 2007. Sie sind zwischenzeitlich aus der SPD ausgetreten, jetzt aber wieder drin. Warum?
Ich kritisiere die Politik so oft, dann muss ich auch aktiv etwas tun. Dass ist ein neuer Versuch, wieder politisch mitzugestalten. Die SPD ist außerdem die Partei, der ich mich vor allem aus historischen Gründen am nächsten fühle.
2009 erklärten Sie die Grünen für unwählbar. „Bei den Grünen begegnet man den meisten Kopftuchträgerinnen und VerteidigerInnen des Kopftuchs, den meisten Kulturrelativisten und Multikulturalisten“, kritisierten sie damals. Was, wenn ihre SPD nach der Bundestagswahl mit den Grünen koaliert?
Bei dem Kopftuch weiche ich kein Stück zurück. Es ist und bleibt für mich ein Zeichen der Unterdrückung. Ich habe die Grünen früher geschätzt, aber sie sind im politischen Mainstream angekommen. Ich bin beleidigt, weil sie sich selbst verraten haben.
SPD -Eintritt, Austritt, dann Eintritt; Abgabe der Anwaltslizenz, dann wieder Rücknahme, jetzt erneut die Arbeit als Juristin. Sie haben ihren türkischen Pass abgegeben, sagen aber von sich, Sie seien sehr türkisch. Können Sie verstehen, dass ihr Lebenslauf manche irritiert?
Ich weiß nicht, was daran irritierend ist. Wer sich so wie ich für Menschenrechte einsetzt, der geht auch Umwege. Leben verläuft halt nicht immer geradlinig.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren