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Seyla Benhabib: Eine Träne im Ozean

■ Vom „Praxis“-Sozialismus zum serbischen Nationalismus

Zwei Bilder, die das amerikanische Fernsehen in den lähmend heißen Sommertagen gesendet hat, sind mir besonders deutlich vor Augen geblieben. Sie halten die Tragödie in jenem Land fest, das einmal Jugoslawien war, zeigen aber auch das politische Rätsel der postkommunistischen Welt. Aus Konzentrations- oder sogenannten „Internierungslagern“, die paramilitärische serbische Truppen im nördlichenTeil Bosnien-Herzegowinas eingerichtet haben, starren uns einmal ausgemergelte, hungrige, erschöpfte und unmenschlich behandelte Männer hinter Stacheldraht an.

Und dann ein Redner nach dem anderen auf dem Parteitag der amerikanischen Republikaner im August, der den Sieg der „freien Welt“, des „Kapitalismus“ und der militärischen Härte Amerikas in Osteuropa und der früheren Sowjetunion erklärte.

Ein weiteres Mal wird in diesem Jahrhundert im Herzen Europas ein Völkermord exekutiert, während die amerikanischen Konservativen den Niedergang des autoritären Kommunismus als Geschenk des Himmels wahrnehmen, um den Triumph der patriarchalischen Familienwerte und des militaristischen Patriotismus zu feiern. Es gilt, das emanzipatorische Erbe der Kämpfe von 1989 gegen Stalinismus und autoritären Kommunismus vor seiner Zweckentfremdung durch diese Spielart des Konservativismus zu bewahren. Doch ebenso wichtig ist es, klar und deutlich für die Grundsätze der internationalen Koexistenz, für Menschenrechte und demokratische Selbstbestimmung einzutreten.

Die von den Serben kontrollierte Jugoslawische Föderation und die kroatische Führung verständigten sich bereits Anfang Juli auf eine „Kantonisierung“ Bosnien-Herzegowinas. Die Moslems, die 44 Prozent der Bevölkerung ausmachen, kontrollieren gerade fünf Prozent des Landes; die Serben, 31 Prozent, kontrollieren 65 Prozent; die Kroaten, 17 Prozent, beherrschen etwa 30 Prozent des Landes (Angaben laut Economist vom 11.Juli 1992). Bereits am 7.April hatten serbische Anführer eine unabhängige Serbische Republik Bosnien-Herzegowina ausgerufen; Anfang Juli folgten die Kroaten, indem sie Mostar zu ihrer Hauptstadt erklärten. Die Kämpfe in Sarajevo und die Leiden der Zivilbevölkerung dort sind nur die sichtbarsten Anzeichen eines noch weit erbitterter und grausamer geführten Kampfes, der in den Dörfern und Städten im nördlichen und südlichen Teil Bosnien-Herzegowinas tobt und auch weitergehen wird.

Alle in diesen Konflikt verstrickten Parteien haben an einem Grundsatz festgehalten, nämlich daß republikanische Souveränität und die Vorherrschaft einer einzelnen ethnischen Gruppe über die anderen – seien es Serben, Kroaten oder Moslems – untrennbar miteinander verbunden seien. Dabei erwirbt sich eine Erklärung der staatlichen Unabhängigkeit den Anspruch auf unsere moralische Unterstützung und politische Anerkennung doch einzig und allein dadurch, daß diese selbstbestimmte politische Einheit sich zu den allgemeinen Grundsätzen der Menschenrechte bekennt, wie sie in der Erklärung der Vereinten Nationen garantiert werden. Wir müssen zu der Einsicht gelangen können, daß es in der Gemeinschaft der Völker kein absolutes und bedingungsloses Recht auf Souveränität gibt.

Die Souveränitätserklärung erlangt ihre Berechtigung durch moralische und politische Grundsätze, die ein Volk anerkennt, und zwar in erster Linie die Menschen-, bürgerlichen und politischen Rechte, die zu achten das Volk, das sich für unabhängig erklärt, bereit ist.

Politisch gesehen sollte die Welt sich mit jeder Form von politischer Bewältigung des gegenwärtigen Konflikts einverstanden erklären: eine Kantonisierung von Bosnien- Herzegowina, mit international anerkannten und garantierten Rechten für die ethnischen Minderheiten in jedem von einer Mehrheit beherrschten Kanton; oder eine vereinte, multiethnische und multinationale Republik Bosnen-Herzegowina, in der die gleichen international anerkannten Garantien für die Menschen-, die bürgerlichen, politischen, ethnischen und religiösen Rechte der verschiedenen Völker gelten. Ein erster Schritt, um diese Vorschläge zu befördern, wäre ein international überwachtes, freies und demokratisches Referendum der Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas, in dem sie frei und ohne jede Bedrohung ihrem Willen Ausdruck verleihen kann.

Die militärische Macht in dieser Region liegt in den Händen der Jugoslawischen Bundesarmee und der paramilitärischen Verbände, die sie unterstützen. Wegen der Blockfreiheit, zu der sich Jugoslawien nach dem Zweiten Weltkrieg bekannte, und gegen die frühere Sowjetunion wurde die jugoslawische Nationalarmee zu einer der größten Armeen in Friedenszeiten im Europa vor 1989 hochgerüstet. Im Chaos, das dem Zusammenbruch der verschiedenen Republiken folgte, sieht sich diese Armee in die Lage versetzt, die politische Landkarte dessen, was einmal Jugoslawien war, neu zu zeichnen. Eine Mischung aus kommunistischem Autoritätsgehabe, serbischem Nationalismus und blankem Opportunismus hat diese Armee dazu getrieben, für sich jenes Gebiet herauszuhauen, das ihr für die neue Bundesrepublik Jugoslawien unverzichtbar erscheint. Ebenso wichtig und politisch gesehen noch gefährlicher sind die militärische Macht und die Rolle der paramilitärischen Gruppen. Sie sind an der Mythologie von Titos Partisanen orientiert, doch diese Tschetniks, diese bewaffneten Banden, die Männer, Frauen und Kinder terrorisieren, tragen das Zeichen aller aus der Geschichte bekannten faschistischen Truppen. Ihr Vorgehen gegen die Kroaten und ganz besonders gegen die moslemische Bevölkerung der angrenzenden Republiken verstößt gegen alle Grundsätze der Menschenrechte und der Menschenwürde; sie betreiben den Völkermord an der moslemischen Bevölkerung und die „ethnische Säuberung“. Von der politischen Führung und dem militärischen Kommando der Jugoslawischen Republik verlautet, daß diese Gruppen nicht mehr kontrollierbar seien; die Wahrheit sieht so aus, daß sie Jagdhunde sind, die die schmutzige Arbeit für die reguläre Armee verrichten.

Milosevic muß die Welt entweder für zu dumm oder zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt halten, daß sie seine kaum verschleierten Distanzierungen von diesen faschistischen Gruppen nicht durchschaut. Ehe sie nicht vollständig aufgelöst und entwaffnet sind, ist an ein Referendum gar nicht zu denken.

Wie der aus der Flasche entwichene Geist sind diese paramilitärischen Gruppen dazu in der Lage, alle politischen Pläne zu durchkreuzen, und obwohl sich ihre militärische Schlagkraft auf Dauer ohne die Unterstützung der Jugoslawischen Bundesarmee nicht aufrechterhalten läßt, können sie noch einige Zeit für Verwüstungen und Terror in der Bevölkerung sorgen.

Vielleicht besteht die schlimmste Wirkung dieser Banden und Söldner noch nicht einmal in dem eroberten Gebiet oder ihren militärischen Erfolgen, sondern im Zusammenbruch aller bürgerlichen und moralischen Formen von Koexistenz zwischen verschiedenen Völkern, für den sie verantwortlich sind. Ist einmal eine Woge des Terrors gegen Menschen in Bewegung gesetzt, wenn Folter, Vergewaltigung, Plünderung, Prügelungen und permanente Demütigungen verübt werden, ist eine Schwelle überschritten; eine unantastbare moralische, politische und zivilisatorische Schranke, die menschliches Verhalten in ruhigen Zeiten bestimmt, ist niedergerissen. Daß diese Schranke niedergerissen ist und ein Umgang unter Menschen sich durchsetzt, wie er bis dahin unmöglich schien, gehört zu den gefährlichsten Erbschaften des Faschismus.

Der Faschismus macht das Unmögliche und das Unbegreifliche möglich und wahrscheinlich. Entsprechend wird der Bürgerkrieg, der inzwischen in Bosnien-Herzegowina tobt, die Bevölkerung an einen Punkt treiben, von dem es keine Umkehr mehr gibt, es sei denn, er würde auf der Stelle beendet. Wenn die paramilitärischen Gruppen auf allen Seiten nicht aufgehalten und unter eine Kontrolle gebracht werden, wird ihretwegen auch in Zukunft eine Koexistenz unmöglich sein – wenn nicht wegen ihrer militärischen Erfolge, dann weil sie die elementaren moralischen und zivilisatorischen Umgangsformen zwischen den Nationen zerstört haben.

Wie immer sind die Europäer zu uneins und zu sehr mit ihren kleinlichen nationalen Eigeninteressen Fortsetzung nächste Seite

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und historischen Traumata beschäftigt, als daß sie den Ernst der Lage erkennen würden. Die demonstrativen und letztlich machtlosen Gesten Mitterrands gehören in eine Reihe mit der Furcht der englischen Militärs vor einem guerillaähnlichen Krieg zwischen Völkern und für Völker, für die sie nur historische Verachtung kannten.

Und dann sind da natürlich die Deutschen. Als ich Ende Mai in Frankfurt am Main war, waren manche meiner Kollegen in ziemlicher Verlegenheit, weil sich der alte Kontinent trotz seiner hochentwickelten Wohlfahrtssysteme, seiner intakten und blühenden Städte und seiner wohlbedachten Unterstützung für Kunst und Wissenschaften wieder einmal als politisch willenlos erwies. Die Augen richteten sich ein weiteres Mal über den Atlantik, hinüber zu Uncle Sam.

Als ich erläutern wollte, daß es für uns Amerikaner nicht günstig sei, in der postkommunistischen Welt in eine internationale Leasing-Armee verwandelt zu werden, wurde ich beschieden, ich sei isolationistisch und indifferent geworden. Aber natürlich wird Deutschland und insonderheit die sozialdemokratische Linke von einer Sorge umgetrieben, die es manchmal bequem erscheinen läßt, den Blick über den Atlantik zu richten, zu Uncle Sam, damit der das Unangenehme ausführe: Denn wer wird die rasche unkontrollierte Militarisierung des neuen Deutschland und die vorsichtige Bewegung hin zu einem zunehmend aggressiven militärischen Einsatz deutscher Soldaten aufhalten?

Ich respektiere diese Frage und dieses Problem. Bei den deutschen Sozialdemokraten wie auch bei der nicht parteigebundenen Linken gibt es allerdings ebenfalls sehr starke Neigungen zum Isolationismus und einen unangebrachten Pazifismus. In der postkommunistischen Welt ist der Schimäre einer Kombination von deutscher Wirtschaftsmacht und einem militärischen Isolationismus kein langes Leben beschieden. Wenn die Sozialdemokraten und die deutsche Linke nicht imstande sein sollten, eine glaubwürdige Antwort auf die Frage nach dem Einsatz deutscher Soldaten in Situationen wie der auf dem Balkan zu finden, dann, fürchte ich, werden die gegenwärtig regierenden Parteien mehr und mehr Tatsachen schaffen und das moralisch begehrte Terrain Internationalismus für sich reklamieren.

Worin könnte die militärische Rolle eines vereinten Deutschland in der postkommunistischen Welt und insonderheit angesichts eines Konflikts wie dem in Jugoslawien bestehen?

Vielleicht sollte man sich für den Anfang ernsthafte Gedanken über die Möglichkeit machen, eine Armee der Europäischen Gemeinschaft zu schaffen, die ihre Aktivitäten mit dem Oberkommando der Nato koordinieren oder es sogar ersetzen könnte.

Die Lage im ehemaligen Jugoslawien erinnert mich persönlich auf traurige Weise an einen Satz Hannah Arendts in ihrem berühmten Gespräch mit Günter Gaus, daß ihr weniger ihre Feinde Sorgen machten, als vielmehr das, was ihre Freunde unternähmen. Nachdem ich in der Zeitschrift Praxis International sechs Jahre (von 1986 bis 1992) mit früheren Mitgliedern der jugoslawischen „Praxis“-Gruppe zusammengearbeitet habe, von denen Mihailo Markovic, Sveta Stojanovic, Zagorka Golubovic und Rudi Supek noch immer dem Herausgebergremium angehören, ist es schmerzlich für mich, wenn ich erleben muß, daß sich Mihailo Markovic, der prominenteste Vertreter dieser Gruppe, den Kräften des reaktionären großserbischen Nationalismus angeschlossen hat.

Zum Glück vertreten nicht alle Mitglieder dieser Gruppe die gleiche politische Richtung; Zagorka Golubovic, die sich der Friedensbewegung in Serbien angeschlossen hat, verdient unsere moralische Unterstützung und unsere Solidarität. Vor kurzem wurde Markovic in der New York Times, auf die Möglichkeit eines souveränen Staates Bosnien-Herzegowina angesprochen, mit folgender Antwort zitiert: „Die Alternative wäre die Schaffung eines moslemischen Staates im Herzen Europas. Vielleicht wollen die Amerikaner ja einen solchen Staat unterstützen, um etwas für die Moslems zu tun, und hoffen dabei darauf, über ihre türkischen Verbündeten Einfluß auszuüben.“

Meiner Ansicht nach hätten die Grundsätze des demokratischen Sozialismus, für den wir eingetreten sind, von uns verlangt, daß wir der moslemischen Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas ebenso wie der Provinz Kosovo die freie und demokratische Willensäußerung ermöglichen. Der Gedanke, daß der einzige legitime Grund für die Errichtung eines moslemischen Staates in Bosnien-Herzegowina darin bestünde, mit Hilfe einer beschwichtigten Türkei den amerikanischen Einfluß auf dem Balkan auszuweiten, kommt einem Rückfall in die politischen Verschwörungstheorien gleich, wie sie während des Kalten Krieges gängig waren. Die Grundsätze eines selbstbestimmten demokratischen „Praxis“-Sozialismus, für den Mihailo Markovic einst eintrat, hätten anderes von ihm erwarten lassen. Wenn seine ganze „Praxis“- Philosophie in einer kaum verschleierten Verteidigung des „eurozentrischen und christlichen“ Sentiments bestanden haben sollte, nach dem das „Herz Europas“ von Moslems frei zu halten sei, dann hätte es das Projekt des „Praxis“-Sozialismus allerdings verdient, in der Geschichte zu verschwinden und für immer vergessen zu werden.

Mit dem berühmten Buchtitel von Manès Sperber, der so wunderbar das Ende so vieler Träume der Linken zusammenfaßt, hätte sich das Projekt als „eine Träne im Ozean“ erwiesen.

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