Sexueller Missbrauch an Odenwaldschule: Ein bitterer Kreislauf
Zwei neue Studien beschäftigen sich mit dem Missbrauch an der Odenwaldschule. Vieles erinnert an die Verbrechen der katholischen Kirche.
Es war eine eigenartige Koinzidenz: Im Vatikan in Rom tagt die sogenannte Missbrauchskonferenz, die mit der grassierenden weltweiten sexuellen und seelischen Gewalt an Kindern in katholischen Einrichtungen aufräumen soll. Zeitgleich erscheinen in Wiesbaden zwei neue Studien zu den Missbrauchsvorfällen in der hessischen Odenwaldschule: Danach sollen nicht, wie bisher angenommen, etwa 132 Mädchen und Jungen von Lehrkräften und Angestellten des reformpädagogischen Vorzeigeprojekts sexuell missbraucht worden sein, sondern schätzungsweise zwischen 500 und 900.
Obgleich diese neuen Zahlen alle Dimensionen sprengen, darf davon ausgegangen werden, dass sie immer noch nicht alle Opfer umfassen und die Dunkelziffer deutlich höher liegt. Dem Wesen sexueller Übergriffe – in kirchlichen Einrichtungen, Schulen, Internaten, Sportvereinen, in der Familie – liegen Überlegenheit und ein Machtgefälle der Täter gegenüber den Opfern zugrunde.
Damit einher gehen Drohungen und Schuldzuweisungen, die Opfer vielfach schweigen lassen. Zudem sind viele Gewaltbetroffene so stark und dauerhaft traumatisiert, dass sie jeder Gedanke an ihre Kindheit und Jugend erneut in die Vergangenheit katapultieren würde. Aus Selbstschutz vermeiden und verweigern sie daher nicht selten Gespräche über die furchtbarsten Erfahrungen ihres Lebens.
Zwischen Vatikan und Odenwald
Zynischerweise könnte man meinen, die Autor*innen der beiden neuen Odenwald-Untersuchungen haben auf die Kirchenkonferenz der Katholiken gewartet, um den brisanten Studien zur größtmöglichen Aufmerksamkeit zu verhelfen. Ursprünglich sollten die Ergebnisse, die unter anderem im Buch mit dem bezeichnenden Titel „Die Odenwaldschule als Leuchtturm der Reformpädagogik und als Ort sexualisierter Gewalt“ nachzulesen sind, früher erscheinen.
Das hessische Sozialministerium versichert, es gebe keinen beabsichtigten zeitlichen Zusammenhang zwischen der Klerikalenkonferenz im Vatikan und der Pressekonferenz in Wiesbaden. Man habe sich schlicht nicht auf einen anderen Termin als den Ende vergangener Woche einigen können.
Ein Zusammenhang zwischen katholischer Kirche und Odenwaldschule existiert dennoch. Beides sind Einrichtungen, die eine Art Alleinstellungsmerkmal für sich beanspruchen und insbesondere offen sind für eine bestimmte bürgerliche Elite. So verfolgte die Odenwaldschule bis zu ihrer Schließung 2015 einen Bildungsanspruch, der sich komplett von dem „gewöhnlicher“ Schulen unterschied: Schüler*innen und Lehrkräfte lebten im Internat „in familienähnlichen Wohngruppen“ zusammen, eine Idee, die durchaus Charme versprüht: Freiheit, Gleichheit, Lockerheit. Die Botschaft der Schule: Wir hier sind etwas Besonderes.
Wem diese Ideale entsprachen und wer monatlich die 2.370 Euro für den Internatsplatz plus Extrakosten für „schulbegleitende Ausbildungen“ aufbringen konnte, schickte seine Kinder gerne dahin. Durch die Abgeschiedenheit und das unhinterfragte Abschotten vom Rest der Gesellschaft konnten Strukturen wachsen, die sich jeglicher Kontrolle entzogen. So konnten Lehrkräfte und andere Schulangestellte, Männer wie Frauen, ungehindert jahrzehntelang ihr Unwesen treiben.
Auch die katholische Kirche ist ein fest in sich geschlossenes System, das sich gegenüber Veränderungen kaum offen zeigt. Seit Jahren wird von Katholik*innen gefordert, ihre Glaubensorganisation möge sich endlich der Realität stellen und ihre überholte Sexualmoral modernisieren. Warum aber sollten Priester, Kardinäle, Bischöfe das tun? Damit würden sie Macht, Einfluss und Geld ab- und ihr Alleinstellungsmerkmal aufgeben. Was sonst, wenn nicht der Zölibat hebt diese Männer ab von der männlichen Mehrheit, die sich nicht einer zölibatären Härte unterwirft? Für ein entsagendes Leben einzig für Gott und die Gemeinschaft.
Es ist ein bitterer Kreislauf: Wegen des Sexverbots bleibt den Männern ein normales und offen gelebtes Liebesleben versagt. Und weil sie es nicht haben (können), flüchten sie in den Zölibat.
Die „schützende Hand“, die die Machtsysteme katholische Kirche und Odenwaldschule über die Täter in den eigenen Reihen ausgebreitet haben, ist eine sehr, sehr schmutzige Hand. Eine, die vermutlich nie richtig sauber werden wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen