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Sexologin im InterviewKeine sexfeindliche Gesellschaft

Rayka Kumru ist eine der wenigen Sexologinnen in der Türkei. Ein Gespräch über unterdrückte Sexualität, Moralvorstellungen und Schokopartys.

Sex, ein gängiges Filmthema. Diese Frauen treten in den Streik Foto: Kök Film

Frau Kumru, Kontroversen sind in der Türkei ja an der Tagesordnung. Welches Thema hält Sexologen derzeit auf Trab?

Leider dominieren derzeit Nachrichten über Gewalt gegen Frauen und Kinder. Damit auch die kontroverse Diskussion über ein vor kurzem erschienenes Aufklärungsbuch für Kinder. Experten und Mütterblogs haben einen Shitstorm gegen das Buch losgetreten, die sich in den sozialen Netzwerken widerspiegelt. Die Aussagen der Kritiker sind moralisierend und persönliche Wertvorstellungen dominieren die Diskussion. Die Kritik reicht von Aussagen wie „Das ist nicht altersgerecht, die Kinder werden zur Perversion animiert“ bis hin zum Vorwurf des versuchten Kindesmissbrauchs.

Das klingt dramatisch. Was kann so schlimm an einem Kinderbuch sein und was steht drin?

In dem Buch geht um die Erläuterung der menschlichen Anatomie und Fortpflanzung. Es zeigt zwei Menschen, die nackt im Bett liegen und Sex haben. Genitalien sind nicht zu erkennen. Die Zeichnung ist völlig kindgerecht und unproblematisch für Kinder ab einem Alter von vier Jahren.

Welche Rolle spielen Sie in dieser Diskussion?

Mein Job ist es, solche Situationen zu analysieren und Informationen zur Verfügung zu stellen. Ist die Kritik berechtigt? Geht es tatsächlich um pädagogische oder kulturelle Angemessenheit oder werden persönliche Moralvorstellungen mit wissenschaftlichen Beiträgen verwechselt? Das ist ein ernstzunehmendes Problem.

Sexuelle Aufklärung und Erziehung ist ein marginales Thema in der Türkei. Hat die moralisierende Diskussionskultur über Sexualität etwas mit dem Wissensstand der Menschen zu tun?

Der formale Bildungsstand ist weitgehend irrelevant. Viel wichtiger ist die persönliche Einstellung zu dem Thema. Auch ein gebildeter Mensch kann fragwürdige Informationen und Ansichten verbreiten. Auf einem Kongress habe ich den Vortrag eines Erziehungswissenschaftlers gehört, der sagte, dass nicht-maskuline Männer und nicht-feminine Frauen in Bezug auf ihre Geschlechterrollen therapiert werden müssen, da sie sonst die gesellschaftlich Ordnung gefährden. Und 250 Experten notieren sich das, ohne mit der Wimper zu zucken.

Woran liegt das?

Ich denke eine Ursache liegt darin, dass viele Menschen ihre persönliche Meinung mit wissenschaftlichen Fakten verwechseln. Das gilt auch für Experten wie Mediziner oder Juristen. In unserer Gesellschaft gelten Menschen mit einer akademische Ausbildung als immun, das Vertrauen in sie ist groß, da angenommen wird, sie hätten auf alles einen objektiven Blick. Mir geht es nicht darum, jemanden zu diskreditieren, auch ich bin Teil dieser Gesellschaft. Aber bereits in der Schule entsteht das Problem: Kinder lernen nicht, Dinge kritisch zu hinterfragen. Wenn sie also später eine Expertenmeinung hören, dann gehen sie davon aus, dass alles was diese Person sagt, richtig ist. Das ist keine Dummheit, sondern ein systematisches Defizit. Und unglücklicherweise setzen sich die Ansichten von Menschen durch, die mit ihrer Meinung der Obrigkeit gefallen.

In den vergangenen zehn Jahren hat sich unter der AKP-Regierung ein Backlash hin zum Konservativen abgezeichnet, vor allem in Bezug auf Frauen. Viele bringen das in Zusammenhang damit, dass die Regierungspartei eine islamische Partei ist. Wie würden Sie es erklären?

Darauf gibt es keine einfache Antwort. Auf einer individuellen Ebene haben Bildungsstand, politische Ansichten oder religiöse Überzeugungen nicht unbedingt mit einem liberalen Verständnis für Sexualität oder Geschlechterrollen zu tun. Ich habe durchaus die Erfahrung mit religiösen Eltern gemacht, die sehr an einer angemessen Sexualerziehung ihrer Kinder interessiert sind, die sich aber eine ihren persönlichen Moralvorstellungen entsprechende Aufklärung wünschen. Im Grunde unterscheiden sie sich da nicht von anderen Eltern.

In einem Interview sagten Sie, dass Sex in der Öffentlichkeit zensiert und im Privatleben unterdrückt wird. Da fragt man sich: Ist die Türkei ein sexfeindliche Gesellschaft?

Eigentlich nicht. Eine sexfeindliche Gesellschaft würde im Volksmund nicht so viele Sexwitze haben. Und denken Sie doch an all die Schokopartyszenen in den alten türkischen Filmen. (Schokopartys stehen in türkischen Filmen vor allem der 70er und 80er Jahre für Sex-Partys, die junge Großstadtmenschen veranstalteten. Der Begriff kann im popkulturellen Kontext auch als nostalgische Softorgie verstanden werden, Anm.d.Red.). Auch damals gab es keinen sexuellen Aufklärungsunterricht. Allerdings gab es auch keine derart strukturelle Unterdrückung von Sexualität. Die Gesellschaft befand sich, sagen wir auf neutralem Boden. Historisch betrachtet gab es in der Geschichte der türkischen Republik bis vor zehn bis 15 Jahren keine derart negativen öffentlichen Diskussionen über Abtreibungen oder die sexuelle Aktivität von Jugendlichen. Der Diskurs war auch vor der AKP-Regierung nicht besonders progressiv. Aber er war nicht so kontrovers wie heute.

Woher dann dieser harte Bruch?

Ich denke die Zensur von Sexualität in der Öffentlichkeit hat viel mit der gesellschaftlichen Segregation von Männern und Frauen zu tun. In manchen Stadtvierteln sind zu gewissen Uhrzeiten nur noch Männer auf der Straße unterwegs, zu anderen Zeiten wiederum nur Frauen. Das hat nicht unbedingt mit der religiösen Kultur der Gesellschaft zu tun, sondern ist strukturell bedingt. Nehmen wir die rosa Busse im öffentlichen Nahverkehr. Wenn eine Trennung zwischen den Geschlechtern vorgenommen wird – und hier wird angenommen, es gebe nur das weibliche oder männliche Geschlecht – dann führt diese Kluft zu einer Angst voreinander, auch sexuell. Die Annahme, dass die sexuelle Annäherung zwischen Frau und Mann etwas Furchteinflößendes ist, führt zu einer seltsamen Gleichung. Dabei hat vieles im Leben mit Sex zu tun. Je stärker Sexualität unterdrückt wird, desto schlimmer wird die Gewalt in diesem Bereich. Der Mensch interessiert sich stets für das Unbekannte, das Unbekannte aber erzeugt auch Angst.

Sie sind eine der wenigen Sexologinnen in der Türkei. Wie wirken Sie dem entgegen?

Ich bin als Beraterin für Vereine oder Institutionen tätig. Dabei ist die praktische Arbeit sehr vielfältig, ob jemand ein Buch schreibt oder eine App installiert. In den letzten zwei Jahren werde ich auch um Beratung gebeten, wenn bei Projekten und Kampagnen, die sich mit Fragen der Sexualität beschäftigen, die Auftraggeber darauf achten wollen, möglichst vielfältig und nicht diskriminierend vorzugehen. Angefangen habe allerdings mit der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, wobei ich mich in erster Linie mit Fragen der Sexualerziehung beschäftige. Ich berate Eltern und Lehrerkollegien, so arbeite ich aktuell mit einer Schule an einem Konzept zum Thema sexuelle Gesundheit. Dies berücksichtigt nicht nur die Erziehung der Schülerschaft, sondern auch der Pädagogen.

Sicher interessieren sich Schüler und Erwachsene für unterschiedliche Themen.

Das Interesse der Erwachsenen an sexueller Erziehung wird aufgrund des tagesaktuellen Geschehens vom Thema sexueller Missbrauch dominiert. Ich bin eigentlich keine Präventions-Expertin, aber natürlich ist das Ziel meiner Arbeit, also der sexuellen Aufklärung, die Prävention von Gewalt. Da geht es vom Stärken des Selbstvertrauens bis hin zur Aufklärung darum, darüber zu entscheiden, wann jemand bereit für den ersten sexuellen Kontakt ist. Es ist berechtigt, dass Eltern sich in erster Linie für die Gewaltprävention interessieren, da sie Angst um ihre Kinder haben. Jedes Mal nach einer entsprechenden Nachricht in den Medien erhalte ich Anfragen von Schulen und Institutionen. Die Bereitschaft, sich mit dem Thema zu beschäftigen, ist positiv, der Anlass natürlich nicht.

Wie gehen Sie dann vor?

Ich versuche in solchen Situationen, mit Kindern und Eltern auch im weiten Sinne über Formen der sexuellen Kommunikation zu sprechen, und das Thema Sexualität im Allgemeinen positiv zu besetzen, damit es nicht nur als ein Problem wahrgenommen wird. Doch der aktuelle öffentliche Diskurs führt leider dazu, dass die gesellschaftliche Wahrnehmung von Sexualität mehr und mehr negativ besetzt wird. Das soll nicht bedeuten, dass Medien Kindesmissbrauch nicht thematisieren sollen, aber es muss in jedem Fall darauf geachtet werden, mit welcher Sprache solche Nachrichten verbreitet werden: möglichst sensibel.

Repressionen gegen Frauen und LGBTQ-Menschen sind derzeit besonders massiv. Wirkt sich das auch auf Ihre Arbeit aus?

Ich versuche mich in meiner beruflichen Tätigkeit nicht davon beeinflussen zu lassen, aber ich erlebe immer wieder Widrigkeiten in Bezug auf das LGBTQ-Thema. LGBTQ-Themen sind wichtig in der Bildungsarbeit. Zuschauen zu müssen, wie es aufgrund von Unwissenheit den Menschen schwer gemacht wird, in dem Wissen, wie es richtig laufen könnte, ist eine ernstzunehmende persönliche Last. Wenn mich eine Mutter fragt: Wir erkläre ich meinem Kind, wenn es bei unserem Familienurlaub im Ausland zwei Männer Hand in Hand laufen sieht?“, lautet meine Antwort: „Eigentlich ganz einfach. In der Regel verlieben sich Frauen in Männer und Männer in Frauen. Aber manchmal verlieben sich Männer in Männer und Frauen in Frauen oder aber auch in beide.“ Doch auch wenn diese Tatsache in der Türkei im Privatleben einfach erklärt ist, ist es umso schwieriger im öffentlichen Leben. Wir erleben eine unerträgliche Dissonanz zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen. Das zwingt uns in verschiedene Identitäten.

Es ist die Woche des 8. März. Frauen kämpfen in allen Lebensbereichen für mehr Macht und Emanzipation. Sexualität ist da ein wichtiges Thema, wie können Frauen sich auch hier stärker machen?

Ich denke, Empowerment ist zu gleichen Teilen eine kollektive, aber auch individuelle Sache. Manche Frauen fühlen ich sich empowert, wenn sie boxen, andere, wenn sie alleine Nachts ausgehen. Wieder andere, wenn sie sich mit anderen Frauen solidarisieren. Die gesellschaftliche Beklommenheit in Bezug auf Sexualität hat natürlich Einfluss auf die Leiden der Frau als Frau. Doch in einer patriarchalen Gesellschaft, in der Frauen das Gefühl gegeben wird, sie seien nur dann vollwertige Frauen, wenn sie Ehefrau und Mutter werden, gibt es auch Frauen, die dieses Bild mittragen.

Inwiefern?

Wir als Frauen müssen aufhören, alleinstehende, kinderlose Frauen als minderwertig oder als potenzielle Gefahr zu betrachten und erwerbslose Frauen als unterdrückt oder ungebildet. So können auch vermeintlich feministische Ansichten zu durchaus menschenfeindlichen Gedankengut führen. Aber hierüber darf nicht vergessen werden, dass zur Stärkung der Frauenrechte auch dazu gehört, in Richtung der Männer zu arbeiten. Die Gesellschaft ist keine Welt, in der die Geschlechter getrennt voneinander leben. Auch Männer müssen an die Gleichheit der Frauen glauben und sich dementsprechend verhalten. Es gibt genug Trennungen auf der Welt, wir müssen die Geschlechter zusammen denken, damit sie erfolgreich zusammenleben können.

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