Serie: Der alte Mann und die Kuppel
taz-Sommerserie "Unbekannte Orte" (Teil 12): Die Neue Synagoge in Mitte. Millionen Touristen waren schon drin, Millionen Berliner noch nie. Einer der standhaften Ignoranten begibt sich für die taz auf historisch sensibles Terrain
Gagschreiber finden sich witzig. Das zeigt sich etwa darin, wie sie Freunden eine SMS schreiben, um sich vor einer Führung durch die Neue Synagoge zu drücken. "Ich mache blau", schreibt mir der Gagschreiberfreund kurz vor dem geplanten Treffen. "Wenn jemand fragt, ich bin krank."
Das sagt berlin.de: "Zu den schönsten Gebäuden Berlins gehört die Neue Synagoge in der Spandauer Vorstadt. Das fast 140 Jahre alte jüdische Gotteshaus war einst die größte und bedeutendste Synagoge Deutschlands."
Das sagt der "Lonely Planet": "Die goldglitzernde Kuppel der wiederaufgebauten Neuen Synagoge ist das sichtbarste Symbol der neu belebten jüdischen Gemeinde Berlins."
Öffnungszeiten: So&Mo 10 bis 20 Uhr, Di-Do 10 bis 18 Uhr, Fr 10 bis 17 Uhr.
Führungen: So 14 und 16 Uhr, Mi 16 Uhr
Nächsten Freitag: Regina Finsterhölzl über die East Side Gallery
In seinen Worten schwingt etwas mit von einem Gefühl aus Schülerzeiten, dieser diffusen Abneigung gegen pädagogisch wertvolle, also öde und nach Lehrplan betroffen machende Klassenausflüge. Auch in mir schwelt bis heute die Sorge, auf historisch sensiblem Boden etwas Falsches zu sagen, zu tun oder auch nur zu denken. Für die einst größte Synagoge Berlins gilt das natürlich auch. Nach einem Besuch des Gotteshauses und seiner golden glänzenden Kuppel weiß ich: Die deutsche Befangenheit hat mich bis heute im Griff, und dieses Gefühl treibt manchmal seltsame Blüten. Die freundlichen Damen und Herren in der Synagoge können nichts dafür. Aber am besten erzähle ich die Geschichte der Reihe nach.
Sie beginnt mit Moses Mendelssohn. Wer die flughafentaugliche Sicherheitsschleuse am Eingang hinter sich gelassen hat, passiert eine Marmorbüste des Philosophen aus dem 18. Jahrhundert. Sein Gesichtsausdruck wirkt mürrisch. Als wolle er klagen, dass ihn bis heute Ungebildete mit seinem Enkel Felix, dem Komponisten, verwechseln. Als wisse er, dass ihn die Deutschen heute bestenfalls als Vorbild für Lessings "Nathan" kennen. Als ahne der Aufklärer, dass die sogenannte deutsch-jüdische Symbiose in Kultur, Wissenschaft und Gesellschaft 150 Jahre nach seinem Tod zerstört sein würde.
Weil dieser Gedanke reichlich pathetisch ist für einen Mittwochnachmittag, gehe ich schnell weiter, in einen runden Saal. In der Mitte steht ein Holzmodell der Neuen Synagoge, wie sie bei der Eröffnung 1866 aussah: Zur Oranienburger Straße hin stand, wie heute wieder, die 28 Meter breite und 50 Meter hohe Backsteinfassade, dahinter erstreckte sich der insgesamt fast 100 Meter lange Bau. Rund 3.200 Sitzplätze im Gebetssaal machten den Bau zur damals größten Synagoge Europas. Ein Bekenntnis der liberalen Juden Berlins zu dem Staat, der ihnen 1812 die Bürgerrechte verliehen hatte. Eine Feier des Erreichten aus Gusseisen, Backstein und Goldblatt. Was davon geblieben ist, zeigt mir eine beleibte Berlinerin mit dicker Brille.
Die Dame geleitet ein Dutzend deutschsprachiger Gäste durchs Haus. Die meisten von ihnen über 50, ein Paar ist mit zwei pubertierenden Söhnen gekommen. Sie wirken unglücklich. Der jüngere, ein schüchterner Blondschopf, trägt ein Hemd mit Tarnmuster. Unwillkürlich frage ich mich: Ist es angebracht, als Deutscher hier so rumzulaufen, angesichts des Holocaust? Sofort komme ich mir dumm vor. Ich muss an einen Text des Autors Wiglaf Drostes denken, der von einer telefonischen Einladung zum Kaffee berichtete. Jemand bot ihm an, ihn zu Hause abzuholen. Mit gespielter Empörung konterte Droste: "Aha, ist es wieder so weit? Es werden wieder Menschen abgeholt in Deutschland. Am helllichten Tag. Zum Kaffee." Was Droste das Abholangebot, ist mir das Tarnhemd.
Wo früher der Gebetsraum war, ist heute ein Feld voller grauer Kiesel unter freiem Himmel. Nur ein großformatiges Foto, acht Säulen anstelle des Thora-Schreins und ein paar Marken auf dem Boden erinnern daran, dass hier einmal die größte jüdische Gemeinde Deutschlands zusammenfand. Männer saßen unten, Frauen auf den Emporen im ersten und zweiten Stock. "Wie in der Oper sah das hier aus", sagt unsere Führerin.
Der Tarnhemdjunge scharrt im Kies. Ein paar Meter weiter plärrt ein anderer Führer. Er geleitet eine Gruppe auf Hebräisch durchs Haus. Die Leute sehen deutlich entspannter aus. Ich wäre jetzt gern einer von ihnen, dabei verstehe ich kein Wort.
Einen Aufstieg zur - ebenfalls nachgebauten - Kuppel macht mir die Führerin nicht gerade schmackhaft. "Da is nüscht, außer ne schöne Aussicht." Das genügt mir, um die immer enger werdenden Treppen hochzusteigen. Die Besucherstimmen verlieren sich. Am Kuppeleingang treffe ich auf einen älteren, distinguiert wirkenden Herrn. Sein Gesicht durchziehen dekorative Furchen, sein graues Haar ist voll, das Sakko passt perfekt. Er sitzt schweigend an einem Tisch, eine kleine Kasse vor sich, daran angelehnt sein Buch. Sehr würdevoll sieht er sich meine Eintrittskarte an und nickt stumm. Dann liest er weiter.
Die Aussicht auf das einst jüdisch geprägte Viertel ringsum ist tatsächlich schön. Mich interessiert aber viel mehr, was dieser würdige Herr da liest. Drei-, viermal gehe ich geradezu lächerlich nah an ihm vorbei. Ich kann es nicht genau erkennen, die Buchstaben scheinen zu schwimmen. Steht da wirklich "Faust I"? Großartig, denke ich: der perfekte, zutiefst melancholische Endpunkt für meine kleine Geschichte. Ein alter, Goethe lesender Jude allein in einer Kuppel, das ist doch eine klasse Metapher für das Weiterleben der deutsch-jüdischen Kulturtradition! Der einsame Nachfahre all der Rathenaus, Einsteins und Mendelssohns!
Die Geschichte könnte an dieser Stelle zu Ende sein. Aber ich begehe einen Fehler. Ich beuge mich hinab zu dem distinguierten Herrn und sage: "Entschuldigen Sie, eine dämliche Frage: Was lesen Sie?" Irritiert blickt er von seinem Buch auf, ich sehe die hebräischen Buchstaben darin. "Was ich lese?", sagt er mit schwerem osteuropäischen Akzent und lächelt: "Roman. Detektiv."
Matthias Lohre lebt seit fünfeinhalb Jahren in Berlin
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