Sektensiedlung Colonia Dignidad in Chile: Noch keine Hilfe
Der Bundestag fordert von der Bundesregierung, die Verbrechen der deutschen Sekte aufzuarbeiten. Jetzt geht es voran – aber nur sehr langsam.
Berlin taz | Über eines waren sich Angela Merkel und der chilenische Präsident Sebastián Piñera einig: „[…] dass wir die in der Colonia Dignidad begangenen Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen kategorisch verurteilen“. Das erklärte der rechtskonservative Piñera am Mittwoch im Rahmen seines Staatsbesuchs in Deutschland. Merkel betonte, „dass wir die Aufarbeitung dieser Verbrechen für außerordentlich wichtig erachten“.
1961 gründete der Deutsche Paul Schäfer die Siedlung Colonia Dignidad und baute dort eine Sekte auf. Mit Getreuen verübte er Menschenrechtsverletzungen an anderen BewohnerInnen. Deren Alltag war geprägt von Freiheitsentzug, Sklavenarbeit und systematischem sexuellen Missbrauch. Während der Pinochet-Diktatur ab 1973 kooperierte die Sektenführung mit dem chilenischen Geheimdienst DINA. Hunderte Oppositionelle wurden auf dem Gelände gefoltert, nach Zeugenaussagen etwa einhundert ermordet. Deutsche Regierungen wussten um die Zustände, gingen aber nicht dagegen vor.
„Wir arbeiten an einer Übereinkunft zur Einrichtung eines Dokumentationszentrums und vielleicht einer Gedenkstätte an dem Ort, an dem diese Verbrechen begangen wurden“, erklärte Piñera in Berlin. Merkel sah die Einrichtung eines Lernortes „vom Grundsatz her positiv“.
Bundestag fordert Zusammenarbeit
2017 hatte der deutschen Bundestag einen einstimmigen Beschluss zur „Aufarbeitung der Verbrechen in der Colonia Dignidad“ gefasst. Darin forderte er die Bundesregierung auf, zusammen mit der chilenischen Regierung eine Gedenkstätte und einen Dokumentations- und Lernort in der deutschen Siedlung einzurichten. Wenn die Regierungen beider Staaten sich einigen, sollen deutsche und chilenische ExpertIinnen endlich einen konkreten Entwurf erstellen.
Im Bundestagsbeschluss wird die Bundesregierung auch zur historischen Aufarbeitung, zur Aufklärung der Vermögensverhältnisse der Villa Baviera (so heißt die Colonia Dignidad seit 1988) und zur Entwicklung eines Hilfskonzepts für Opfer der deutschen Sekte aufgefordert.
Letzteres ging im ersten Anlauf allerdings schief. Ein vom Auswärtigen Amt vorgelegter Entwurf für Hilfsmaßnahmen stieß auf breite Ablehnung bei Betroffenen und Abgeordneten. Der menschenrechtspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Michael Brand, kritisierte in diesem Zusammenhang eine „strukturelle Fixierung des deutschen Staates insbesondere des Auswärtigen Amtes auf die Villa Baviera“ und sagte: „Es gibt Opfer, die die heutige Villa Baviera bewusst verlassen haben. Auch die müssen in dieses Konzept einbezogen werden.“
Ein schleichender Prozess
Am Mittwochabend traf sich die „Gemeinsame Kommission zur Umsetzung des Hilfskonzepts für die Opfer der Colonia Dignidad“ zu ihrer konstituierenden Sitzung. Abgeordnete aller Fraktionen tagen hier zusammen mit VertreterIinnen aus Ministerien. Sie sollen Kriterien definieren, nach denen Hilfsleistungen an Opfer der Sekte vergeben werden. Doch die Abgeordneten fordern zuerst einen neuen Regierungsvorschlag für ein Hilfskonzept.
Zur Abstimmung ihrer Vorgehensweise wollen die Abgeordneten sich zunächst untereinander treffen und auch Experten anhören. Friedrich Straetmanns von der Linken erklärte nach der Sitzung der Kommission: „Über alle Parteigrenzen hinweg beschäftigt uns der Wunsch nach einer zügigen und menschlich fairen Lösung dieser Frage. Wir wollen den Opfern signalisieren, dass wir sie nicht alleine lassen, und dass wir als Parlamentarier jetzt verstärkt Druck machen.“
Leser*innenkommentare
Sven2000
Hmmm. Gab es da nicht den Colonia-Arzt, der in Chile in Abwesenheit zu Gefängnis verurteilt wurde, der aber in Deutschland fröhlich lebte, weil „ein Interesse an der Strafverfolgung“ nicht bestand?
Weshalb genau macht die Bundesregierung jetzt Druck auf Chile?
Bestimmt leben weitere Täter noch immer in Deutschland, und den Opfern im Vorläuferkonstrukt in Siegburg wurde auch nicht geholfen.
Opossum
Bereits in den 90ern waren die Missstände in der Kolonie bekannt. Seitdem ist die Aufarbeitung (parlamentarisch und juristisch) in einer Form verschleppt worden die wirklich unfassbar ist. Bereit in den 90ern haben Organisationen wie Amnesty International auf di unfassbar wiederlichen und menschenverachtenden Zustände in der Kolonie hingewiesen.
„Über alle Parteigrenzen hinweg beschäftigt uns der Wunsch nach einer zügigen und menschlich fairen Lösung dieser Frage. Wir wollen den Opfern signalisieren, dass wir sie nicht alleine lassen, und dass wir als Parlamentarier jetzt verstärkt Druck machen.“
..das klingt wie Hohn, man bekommt eher den Eindruck dass über viele Jahrzehnte Verflechtungen mit Justiz und Politik bestanden und bestehen die offensichtlich teilweise heute noch funktionieren.
Einfach nur wiederlich und beschämend
Hanne
@Opossum Ich bin mir sogar sicher, Ende der 80er darüber im deutschen (ör) Fernsehen erstmals was gesehen und gehört zu haben.
Mich wunderte es auch sehr, "viele" Jahre später - in den 90ern - wieder davon zu hören und noch mehr - wie Sie auch - dass "jetzt" - immerhin 30 Jahre nach der für mich ersten kritischen Berichterstattung! - was getan werden soll. Das ist vergleichbar mit dem Missbrauch im christlichen Bereich: Jede/r weiß es, aber getan wird nichts.
Lars F
@Hanne Die Unterstützung, bzw. das 'Machen-lassen' von rechtsextremistischen Strukturen hat in Deutschland ja auch ein wenig Tradition :-(