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■ Seit zwei Jahren grübeln die KultusministerInnen über eine Abiturreform. Am 1. Dezember soll über Kernfächer, Prüfungsmodalitäten und Schulzeiten entschieden werdenDie Reife auf dem Prüfstand

Seit zwei Jahren grübeln die KultusministerInnen über eine Abiturreform. Am 1. Dezember soll über Kernfächer, Prüfungsmodalitäten und Schulzeiten entschieden werden

Die Reife auf dem Prüfstand

Humboldt ist in der Masse erstickt“, meint Hans- Uwe Erichsen, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz. Und Sachsens Wissenschaftsminister Hans- Joachim Meyer (CDU) plädiert sogar für Aufnahmeprüfungen an den Universitäten. Beide eint die Kritik an Deutschlands Reifeprüfung. Denn die, so Erichsen, entläßt Abiturienten, denen es an der nötigen Kompetenz zum Studium mangelt.

Angehende Jurastudenten, so monieren Professoren, könnten nicht einmal mehr Schriftsätze in vernünftigem Deutsch formulieren. Und die Wirtschaft beklagt den mangelnden Teamgeist vieler Abiturienten. Vor allem konservative Bildungspolitiker würden dem Abitur daher wieder gern den elitären Charakter der fünfziger Jahre verpassen. Damals erlangten knapp fünf Prozent eines Geburtenjahrgangs die allgemeine Hochschulreife. Heute macht ein Drittel aller SchülerInnen das Abitur, und in Beamtenstädten wie Münster oder Heidelberg sind es sogar 50 Prozent. Erichsens Fazit: Das Abitur muß wieder strikter gehandhabt werden. Schule müsse nicht nur individuelle Neigungen befriedigen, sondern auch „Verpflichtungen vermitteln“.

Seit zwei Jahren denken Deutschlands KultusministerInnen nun über eine Abiturreform nach. Prüfungsmodalitäten, Kernfächer und Schulzeiten stehen auch am kommenden Donnerstag im Mittelpunkt der Verhandlungen. Am 1. Dezember soll die Entscheidung fallen. In der Frage, ob SchülerInnen die Reife nach 13 oder schon nach 12 Jahren erlangen sollten, bahnt sich ein vorläufiger Kompromiß an: Von „Bandbreiten“ bei der Schulzeit ist nun die Rede. Künftig soll das Abitur auch nach 12 Jahren möglich sein, wenn zum Beispiel der Unterricht in den Nachmittag ausgedehnt wird. Ausschlaggebend für die Länge der Schulzeit, so betont Bayerns Kultusminister Hans Zehetmair (CSU), sei allein der „Qualitätslevel“. Immerhin habe Hessen mit 13 Schuljahren nicht mehr Stunden auf dem Lehrplan als Thüringen mit 12 Jahren.

Die Qualität der Reifeprüfung macht auch anderen Bildungspolitikern zu schaffen. Sachsens Kultusminister Matthias Rößler (CDU) will aus diesem Grund am liebsten das Kurssystem der differenzierten Oberstufe wieder abschaffen. Er plädiert dafür, daß alle SchülerInnen Deutsch, Mathematik, Geschichte, eine Fremdsprache und eine Naturwissenschaft durchgehend bis zum Abitur belegen müssen. Deutsch, Mathematik und die Fremdsprache sollten obligatorische schriftliche Prüfungsfächer sein, Geschichte will er als mündliches Prüfungsfach vorschreiben. Zugleich sollte wieder im traditionellen Klassenverband unterrichtet werden.

Doch diese „Deform“ der gymnasialen Oberstufe wird die Kultusministerkonferenz der Länder (KMK) nicht mitmachen. Daß an der Struktur der gymnasialen Oberstufe nicht gerüttelt wird, ist heute schon klar. Denn das differenzierte Kurssystem, so befand eine von der KMK beauftragte Expertenkommission, „hat sich als prinzipiell leistungsfähig erwiesen“. Strittig bleibt, inwiefern den sogenannten drei Kernfächern Deutsch, Mathematik und einer Fremdsprache zu mehr Geltung verholfen werden soll. Mit der Einführung der Oberstufe, die seit 1972 den Unterricht im Klassenverband abgelöst hat, haben SchülerInnen bisher die Wahlfreiheit. Sie müssen zwar Deutsch, Mathematik und eine Fremdsprache bis zur 12. Klasse belegen. Als Prüfungsfach jedoch sind die drei nicht zwingend vorgeschrieben. Dem bayerischen Kultusminister Zehetmair ist das schon lange ein Dorn im Auge. Er spricht sich dafür aus, zumindest zwei Kernfächer zur Prüfung vorzuschreiben. Außerdem will er die Zahl der Prüfungen von vier auf fünf erhöhen.

Dieses Ansinnen fand als Minderheitsvotum sogar Eingang in das Gutachten der Expertenkommission zur „Weiterentwicklung der Prinzipien der gymnasialen Oberstufe und des Abiturs“. Eine Mehrheit der KMK-Gutachter spricht sich jedoch dafür aus, es bei vier Abiturprüfungen zu belassen. Um die drei Kernfächer zu stärken, sollten sie durchgehend bis zum Abitur belegt werden müssen. Der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) geht auch diese „sanfte“ Reform zu weit. „Zu einem eigenständigen Lernen gehört Wahlfreiheit“, meint GEW- Vorstandsmitglied Otto Herz.

Da die SPD-regierten Länder in der KMK die Mehrheit stellen, wird es vermutlich jedoch auf die „sanfte“ Abiturreform hinauslaufen. Daß eine derartige Regelung in neun der 16 Bundesländer (unter anderem in Berlin, Rheinland- Pfalz und Saarland) schon längst besteht, scheint den Reformwillen der KultusministerInnen nicht zu trüben. Obendrein nimmt die Realität an den Schulen längst vorweg, was an Ministerschreibtischen noch geplant wird: Mathematik, Deutsch und Englisch gehören schon lange zu den Lieblingsleistungskursen deutscher AbiturientInnen. Über 90 Prozent aller hessischen SchülerInnen belegen auch noch in der 13. Klasse Mathematik. Und in Bayern legten dieses Jahr rund die Hälfte aller AbiturientInnen in einem dieser Fächer eine schriftliche Abiturprüfung ab.

Jürgen Baumert, Vorsitzender der Expertenrunde, erwartet daher auch „keine durchschlagenden Veränderungen“. Denn es gehe weniger um den Regelungsbedarf durch die Kultusminister als um den Handlungsbedarf vor Ort. So betont das KMK-Gutachten, daß Schule auch die Vermittlung sozialer Kompetenzen berücksichtigen muß, daß sie „die Kooperations- und Teamfähigkeit stützen“ sollte. Zugleich plädieren die Gutachter für eine „Stärkung der Berufsorientierung in der Oberstufe“ und betonen, daß fächerübergreifende Themen sowie der interdisziplinäre Unterricht an Schulen künftig unentbehrlich sind.

Entsprechende Modelle, wie die Profiloberstufe an der Max- Brauer-Schule in Hamburg, böten da einen Ansatzpunkt. Seit 1993 können SchülerInnen sich hier in der Oberstufe für eines von drei fächerübergreifenden sogenannten Profilen entscheiden: „Umwelt“ umfaßt dabei zum Beispiel die Fächer Biologie, Erdkunde, Physik, Chemie und Religion. Neben den üblichen Grundkursen beläuft sich der Unterricht im Profil auf 15 Wochenstunden und ersetzt die sonst üblichen Leistungskurse. Ganz so weit wird die Reformbereitschaft aller Kultusminister jedoch nicht gehen. Derzeit überlegt man in der Ministerrunde lediglich, inwieweit einzelne Kurse ab und an auch ein Kernfach ersetzen könnten. Ein Ökonomiekurs zum Beispiel, in dem Wirtschaftsstatistik und Wahrscheinlichkeitsberechnungen einen hohen Stellenwert haben, könnte dann anstelle von Mathematik belegt werden.

Ob geringe Wahlfreiheit Einfluß auf das Engagement von SchülerInnen haben wird, bleibt dahingestellt. In der Hamburger Profiloberstufe jedenfalls beantragten zwei Schüler nach der Beschäftigung mit dem Thema Klima für die Schule ein Blockheizkraftwerk zur Verbesserung der Energiebilanz. Karin Flothmann

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