Seit 40 Tagen in türkischer U-Haft: Der Unermüdliche
Eine der wichtigsten und zentralen Figuren der türkischen Zivilgesellschaft, Osman Kavala, sitzt im Gefängnis. Ein Portrait.
In der Nacht des 19. Oktober 2017 wurde ein Unternehmer und Mäzen von beträchtlichem Einfluss in der türkischen Zivilgesellschaft festgenommen. Regierungstreue Medien nahmen zuvor Osman Kavala ins Visier und überschütteten ihn mit einer Schmutzkampagne in ihren Blättern.
Kurz nach seiner Festnahme hetzte Staatspräsident Erdoğan persönlich gegen ihn: „Kavala sei ein NGO-Vertreter, Angehöriger der Medien, ein guter Bürger, heißt es. Mit solchen Schönfärbereien soll vom Ziel abgelenkt werden. Jetzt hat sich gezeigt, wer der Mann ist, den man den türkischen Soros nennt.“ Der Haftbefehl kam prompt danach. Seither sitzt Kavala hinter Gittern.
Jahrzehntelanges Engagement
Seine Inhaftierung hat viele Menschen, internationale Künstler und Intellektuelle und auch mich als kurdischstämmige Journalistin zutiefst erschüttert. Hunderte berichteten in sozialen Medien über persönliche Erlebnisse mit ihm und machten damit deutlich, was für ein Mensch er ist. Manches davon habe ich selbst miterlebt.
Vor rund 18 Jahren lernte ich Osman Kavala bei eigenem zivilgesellschaftlichem Engagement kennen. Damals war ich in Sachen Frauenrechte aktiv und beteiligte mich an Aktionen gegen Gewalt an Frauen. Auch Kavala gehörte zu den Unterstützern. Später wirkte ich bei zahllosen seiner kulturellen Initiativen direkt oder am Rande mit.
Ich erlebte, wie er viele Jahre lang über Kultur und Kunst Menschen aus dem ganzen Land zusammenbrachte, die sonst schwerlich je an einen Tisch gefunden hätten, von Kars bis Muş, in Diyarbakır, Antep, Antakya, Mardin, Eriwan, Zentralanatolien, Çanakkale oder Bursa.
Kunst, Kultur und Freiheitsrechte
Kavala gründete die Stiftung Anadolu Kültür, die überall im Land KünstlerInnen unterstützt und regionale Kunst sichtbarer machen will. Er griff jungen KünstlerInnen unter die Arme und verknüpfte lokale Kulturszenen anatolischer Städte miteinander. Sein Engagement beschränkt sich aber nicht auf Kultur und Kunst.
Ebenso setzt er sich für Kinderrechte, für Geflüchtete, gegen Armut, für Entwicklung, für Kriegsgeschädigte, für LGBT-Rechte, für die Lösung der kurdischen und der armenischen Frage, für Demokratie, Freiheit und den Aufbau des Rechtswesens ein. Auf unterschiedlichen Gebieten hat er dem Land große Dienste geleistet.
Kavala gehörte zu den Ersten, die halfen, wenn sich irgendwo eine Katastrophe ereignete. Ich habe mich immer gewundert, wie es ihm gelang, überall anwesend zu sein. Am Tag nach dem Erdbeben vom 23. Oktober 2011 in Van kauften wir in Diyarbakır so viele Wolldecken, wie wir bekommen konnten, und brachten sie mit einem Lkw in die zerstörte Stadt.
Erstellte eigenhändig Bedarfslisten
Unterwegs versorgten wir damit Bedürftige. Auch Osman Kavala war unmittelbar nach dem Beben nach Van gefahren. Er klapperte die Dörfer und Zelte ab, um festzustellen, wo was gebraucht wurde. Als die Bedarfsliste stand, gingen wir beide zusammen zu den Behörden und veranlassten den Aufbau einer Zeltstadt.
Kavala führte stets zu Ende, was er einmal begonnen hatte, und verfolgte auch anschließend die weitere Entwicklung. Bis die Geschädigten in dauerhaften Wohnraum umziehen konnten, kümmerte sich Kavala jahrelang um ihre Bedürfnisse und bemühte sich um Hilfe.
Während der Phase der Friedensgespräche 2012 wollten wir zur Unterstützung des Friedens in Diyarbakır ein Institut gründen, das vor allem zur kurdischen Sache, aber auch zur ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Situation in der Türkei allgemein detaillierte Studien erstellen sollte. Kavala war einer der Ersten, mit denen wir uns darüber unterhielten.
Mitbegründer von politischen Instituten
Dieser Mensch eilt nicht nur jedem zu Hilfe, sondern lebt nach den Prinzipien von Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung und setzt sich dafür ein, dass diese Werte fester in der Gesellschaft verankert werden. Er gehört zu jenen, die diesen schweren Brocken in der Türkei ständig stemmen.
2012 gründeten wir mit zwölf Personen verschiedener politischer Ansichten und Vergangenheiten das Institut für politische und soziale Forschungen in Diyarbakır, Osman Kavala war dabei. Mehrere Jahre war ich im Vorstand tätig und sah, wie konsequent und stetig er in seiner politischen Haltung zu diversen Bereichen der kurdischen Sache ist, von muttersprachlichem Unterricht bis zur Aufarbeitung der Vergangenheit.
Als im Sommer 2014 Hunderttausende Jesiden vor den Übergriffen des IS aus dem Irak in die Türkei flüchteten, fühlte Osman Kavala sich erneut aufgerufen. Im Jesidencamp in Diyarbakır richteten wir nach einigen Mühen gemeinsam eine Schule ein. Was immer es in der Schule brauchte – ob Schulbücher oder Motivation der Lehrer –, er kümmerte sich um alles.
Verwehrt niemandem seine Unterstützung
Wenn in den Jesidencamps der Region Brennholz, Kleidung und Nahrungsmittel ausgingen, war er der Erste, an den wir uns um Hilfe wandten. Persönlich kümmerte er sich darum, welches Holz, welche Zelte wir kaufen sollten, damit die Menschen es möglichst warm und angenehm hätten.
Osman Kavala ist ein ganz besonderer Mensch, der niemandem seine Unterstützung verwehrt, egal ob SyrerInnen, JesidInnen, TürkInnen, KurdInnen, ArmenierInnen, AramäerInnen.
Jetzt wird diesem besonderen Menschen vorgeworfen, er sei „Leiter und Organisator der in der Öffentlichkeit als ‚Gezi-Proteste‘ bekannten Aktionen, die ein Aufstand zur Abschaffung der Regierung waren, an denen die Terrororganisationen FETÖ/PDY, PKK/KCK, DHKP/C und MLKP aktiv beteiligt waren“.
Wie soll man bei solch haltlosen Vorwürfen nicht wütend werden und bedauern, wie weit es mit der Türkei gekommen ist! Ich möchte behaupten, dass es unter all den Tätigkeiten von Osman Kavala nichts gibt, was irgendwie im Zusammenhang mit einer Straftat stehen könnte.
Schlag gegen Zivilgesellschaft
In einem Land mit funktionierendem fairem Rechtssystem, in dem man sich nach den Gesetzen richtet, wäre es vollkommen undenkbar, einen Menschen wie ihn wegen irgendetwas vor Gericht zu stellen.
Das Verfahren gegen ihn ist ein politischer Prozess. Die Regierung betrachtet die Zivilgesellschaft seit Langem als Gefahr für sich. Jene, die nicht wollen, dass die zivilen Kräfte erstarken, versuchen, den Kampf der Zivilgesellschaft für Gerechtigkeit zu ersticken. Im Zuge des am 20. Juli 2016 verhängten Ausnahmezustands nach dem Putschversuch, wurden Tausende gesellschaftliche Organisationen per Dekret verboten.
Die Verhaftung von Osman Kavala nun ist ein weiterer schwerer Schlag der Regierung gegen die Zivilgesellschaft. Eingesperrt werden sollen die Werte, für die Osman Kavala eintritt. Das ist eine Drohung an alle, die sich für Freiheit, Frieden, Gleichberechtigung, Gerechtigkeit, Pluralität, Menschenrechte, Meinungsfreiheit, Dialog und Demokratie einsetzen.
Gutes tun ohne Gegenleistung
Die derzeitige Regierung und ihre loyalen Medien nennen Osman Kavala den „finstersten Mann im Land“. Selbstverständlich erwarte ich von diesen Leuten, nicht, dass sie Osman Kavala begreifen. Es ist ja nicht er, den sie nicht verstehen können. Unvorstellbar für sie ist, dass ein Mensch, ohne irgendeine Gegenleistung zu erwarten, allein um der Werte willen, an die er glaubt, imstande ist, so viel Gutes und Schönes zu tun. Das ist für sie tatsächlich unglaublich“.
Enden möchte ich mit einem Zitat von Derya Bozarslan, einer Kollegin Kavalas, die erzählte: „Eine Jesidin rief mich an, sie floh 2014 nach dem IS-Angriff aus Shengal und ist eine der Millionen wunderbaren Menschen, die Gutes von Osman Kavala erfahren haben. Sie sagte mir: ‚Jeden Morgen wende ich mein Gesicht zur Sonne und bete zu Melekê Tavus, dem heiligen Engel Pfau, er möge meinen Bruder Osman vor den Grausamen schützen.‘ “
Auch wir beten für Osman Kavala. Und wir sind stolz darauf, an seiner Seite zu sein, den gleichen Weg zu gehen und uns für die Werte einzusetzen, für die er einsteht.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!