: Sehnsüchtige Blicke nach Osten
Im ehemaligen Ostteil Berlins hat die Wirtschaft die Talsohle durchschritten, doch im Westen greift die Wirtschaftskrise um sich ■ Aus Berlin Hannes Koch
Der Schock sitzt tief bei vielen Einwohnern des alten West-Berlin. War man früher von der DDR zwar eingemauert, so fühlte man sich den Brüdern und Schwestern im Osten doch haushoch überlegen. West- Berlin als Vorposten des Kapitalismus zögerte nie, seinen vermeintlichen Reichtum zur Schau zu stellen. Axel Springer baute sein Verlagshochhaus als ewigen Beweis marktwirtschaftlicher Überlegenheit direkt an die Mauer, und weithin sichtbar grüßte vom Europa- Center der Mercedes-Stern in Richtung Alexanderplatz. Doch der einstige Pfahl im Fleische des Sozialismus ist in den langen Mauerjahren morsch geworden.
Schlimmer noch: Während die Wirtschaft in der ehemaligen Hauptstadt der DDR allmählich gesundet, ist die Talfahrt im Westen womöglich noch immer nicht beendet. Der Berliner Wirtschaftssenator Norbert Meisner (SPD) erhoffte vergangene Woche bei der Vorlage des Wirtschaftsberichts für Gesamtberlin ein Wachstum von 2 bis 2,5 Prozent im laufenden Jahr – nach 0,6 Prozent im Jahr 1994 und einem Rückgang von 0,7 Prozent 1993.
Doch getragen wird der matte Aufschwung durch die Ostberliner Wirtschaft, die sieben bis acht Prozent zulegen soll, während für Westberlin bestenfalls ein Prozent erwartet wird. 1994 war die Wirtschaft im Westen noch um 0,9 Prozent geschrumpft. In den östlichen Bezirken war das Bruttoinlandsprodukt dagegen um 7,5 Prozent gestiegen.
So sind zum Beispiel die Arbeitsplätze bei Daimler-Benz im Westberliner Bezirk Marienfelde heute keineswegs mehr sicher. 700 Leute verloren dort in den vergangenen drei Jahren ihren Job. Die Daten der Arbeitslosigkeit belegen mittlerweile ebenfalls ein Gefälle zuungunsten der West-Bezirke. Dort waren im Juni 1995 rund 136.000 Menschen ohne Beschäftigung – mit 14,1 Prozent sind das mehr als in allen anderen Ländern Westdeutschlands. In Ost-Berlin suchten demgegenüber 73.000 Arbeitnehmer, das entspricht zwölf Prozent, einen Arbeitsplatz.
Das in Berlin ansässige Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) stellt dazu fest, daß „weiterhin mit hohem Tempo Kapazitäten stillgelegt“ werden und sich der „Anpassungsdruck, der zu Produktionseinschränkungen zwingt, zunehmend von den östlichen in die westlichen Bezirke verlagert“. Wirtschaft und Bevölkerung machen seit 1989 einen dramatischen Strukturwandel durch, der sich deshalb so hart und unerbittlich auswirkt, weil er auf wenige Jahre zusammengepreßt ist. Ähnliche Prozesse, wie sie gegenwärtig in Berlin ablaufen, dauerten in westdeutschen Ballungsräumen wie im Ruhrgebiet 20 Jahre oder länger.
Seit 1991 sind in Westberlin 40.000 von ehemals 173.000 Industriearbeitsplätzen verlorengegangen. Und 1995 wird die Beschäftigung nach Schätzungen des DIW nochmals um 10.000 Jobs zurückgehen. Der schnelle Abbau hat vor allem zwei Gründe: Weil erstens durch den Fall der Mauer die künstliche Insellage aufgehoben wurde, können die Unternehmen, die mehr Platz oder bessere Verkehrsanbindung brauchen, jetzt ins Umland ausweichen.
Zum anderen ist in den vergangenen Jahren die Berlinförderung, die während des Kalten Krieges riesige Subventionssummen in die Mauerstadt pumpte, schrittweise reduziert und Ende 1994 ganz abgeschafft worden (siehe Kasten). Ohne die milliardenschweren Sonderzuweisungen der Bonner Regierung hätte sich so manches Unternehmen schon viel früher einen anderen Standort gesucht.
Als die Berlinförderung versiegte, klaffte beispielsweise beim Kosmetik-Konzern Schwarzkopf plötzlich ein dickes Loch in der Kasse. 1994 machte das Unternehmen seine verlustbringende Berliner Shampoo-Fabrik dicht und verlagerte die Produktion nach Bayern. Die Deutschen Telefonwerke (DeTeWe) bauten Arbeitsplätze in Kreuzberg ab – einem Bezirk im autoverstopften Zentrum der Stadt. Um den Ausfall der Subventionsmillionen auszugleichen, mußte ein verkehrsgünstiger und damit billigerer Standort her. Die neuen Fabriken arbeiten jetzt am östlichen Stadtrand Berlins in der Nähe der Autobahn.
Auch der Zigarettenhersteller Austria Tabak schließt sein Berliner Werk mit 170 Beschäftigten. Eine Video-Tochter der BASF, die Filmfirma Kodak, die Batteriefabrik Sonnenschein und andere komplettieren die Liste der Wirtschaftsflüchtlinge.
Dabei kommt aus anderen Branchen wenig Entlastung. Der Einzelhandel stöhnt und baut Stellen ab, weil immer mehr Großmärkte am Stadtrand ihre Tore öffnen. Außerdem reduziert der Berliner Senat die Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst. Während man früher so manche überflüssige Stelle einrichtete, um die Jobstatistik freundlicher zu gestalten, wurden in letzter Zeit 16.000 Stellen gestrichen. Weitere 9.000 Jobs fallen dem Rotstift des Finanzsenators bis 1996 zum Opfer.
Der Himmel über Berlin ist voller Baukräne. Die Stadt erlebt einen Bauboom, der nur mit der Gründerzeit vor 100 Jahren zu vergleichen ist. Trotzdem schlägt die Fachgemeinschaft Bau als Vertretung der mittelständischen Bauwirtschaft Alarm. Pressesprecher Norbert Nickel: „Da spielt sich was ganz Dramatisches ab.“ Der Umsatz des Bauhauptgewerbes steige zwar, doch die Beschäftigung gehe zurück. Mögliche Erklärung: Die großen Berliner Baufirmen vergeben ihre Aufträge zunehmend an billigere, auswärtige Subunternehmer, so daß der Bauboom an der Berliner Wirtschaft mehr oder weniger vorbeigeht. Also auch hier keine nennenswerte Entlastung für den Arbeitsmarkt.
So kommen aus dem Westen meist deprimierende Nachrichten. CDU-Politikern wie Klaus Landowsky, Fraktionschef im Abgeordnetenhaus, fällt es daher leicht, mit populistischen Argumenten auf Stimmenfang für die Landtagswahlen am 22. Oktober zu gehen. Die Westberliner seien die eigentlichen „Verlierer der Einheit“, heißt es.
Diese Sichtweise verkennt jedoch die Fakten. Zwar machen sich in den östlichen Bezirken der wiedervereinigten Stadt erste Erholungstendenzen bemerkbar, aber die Ausgangsbasis für das Wachstum ist weitaus armseliger als im Westen. Die alten Industrieareale der Hauptstadt der DDR sind nahezu vollständig entvölkert und ausgeschlachtet. Von den einstigen Großbetrieben des Maschinenbaus, der Elektro- und Chemieindustrie sind kleine Privatfirmen und ABM-Gesellschaften mit meist nur einigen hundert Beschäftigten übriggeblieben.
180.000 Arbeitsplätze stellte die Ostberliner Industrie bis 1989. Heute arbeiten dort noch 33.000 Menschen. Und 1995 wird sich der Abbau der Industriebeschäftigung nochmals fortsetzen. Positiv entwickeln sich nach Schätzungen des DIW der Handel, die Kleinindustrie und vor allem das Handwerk, das mittlerweile zum großen Hoffnungsträger der Berliner Wirtschaft geworden ist.
In den westlichen Bezirken wird sich dagegen die Wirtschaftsleistung nur wenig über das Maß von 1994 hinaus steigern. Hoffnungszeichen sind dünn gesät. Immerhin verzeichne die Industrie einen steigenden Auftragseingang, verkündet Wirtschaftssenator Meisner. Auch daß sich der Beschäftigungsabbau nicht mehr verstärkt, muß als Beleg für den Wandel zum Besseren herhalten.
Die Industrie- und Handelskammer verweist zudem gerne darauf, daß sich vor allem im Verkehrssektor einiges bewege. So hat Siemens die Leitung seiner Sparte Verkehrstechnik von Erlangen nach Berlin verlegt – eines der seltenen Beispiele dafür, daß mit der vielbeschworenen Dienstleistungsmetropole Ernst gemacht wird. Auch die Daimler-Töchter AEG und ABB wollen das Entscheidungszentrum für ihren fusionierten Bahntechnikbereich an der Spree ansiedeln. Mercedenz-Benz gab außerdem bekannt, daß die Motoren für die neuen Kleinwagen Swatch-Mobil und A-Klasse im Werk Marienfelde gebaut werden sollen.
Einer der Strohhalme, an den sich der CDU/SPD-Senat vor den Landtagswahlen im Herbst klammert, ist die Länderehe zwischen Berlin und Brandenburg, die zu einem noch nicht genau festgelegten Zeitpunkt gegen Ende des Jahrtausends kommen soll.
Die allerdings nutzt den Unternehmen und den Arbeitslosen erst mal herzlich wenig, dient sie doch in erster Linie der verwaltungsmäßigen Vereinfachung. Einheitliche Gesetze, die gemeisame Planung der Verkehrswege und eine abgestimmte Wirtschaftsförderung werden zwar sicherlich der Wirtschaft langfristig Nutzen bringen, aber vor 2010 macht sich der kaum bemerkbar.
Länderfusion, Dienstleistungsmetropole, High-Tech-Standort für Verkehr und Genforschung, Ost-West-Handelsdrehscheibe – irgendwann wird sich aus diesen Elementen vielleicht einmal der Aufschwung an der Spree zusammensetzen. Klar ist aber schon heute, daß die 209.000 Arbeitslosen und zusätzlich 85.000 Menschen, die in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und ähnlichen Warteschleifen stecken, von diesem Zukunftskuchen wohl kein Stück mehr abbekommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen