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Sehnsüchte nach Querschlägern im Tagesablauf

■ Jugend in den 50ern: Auszug aus „Sonntags Kino“ von Jürgen Theobaldy

Der Anfang war nur Spaß gewesen, ein Zweikampf unter Freunden, sagten sie, ohne Nachtreten und miese Tricks, die Waffen waren am Eingang abzugeben. Aber schnell merkten sie, daß Dieter nicht an Muff herankam und daß Muff hartnäckig kämpfte, als ginge es um einen Platz in den besseren Reihen, das machte sie aufmerksam. Wahrscheinlich hätte Dieter sich vorhin nicht auf diese Weise über Uschi auslassen sollen, die bekannten Sprüche, mit denen er nichts beschreiben oder erklären wollte, eine Möse, feucht wie ein Eimer Wasser, Wendungen, die sie alle benutzten, um jemanden zu reizen. Und Uschi war vorher Muffs Frau gewesen, auf der Kirmes waren sie beide Arm in Arm herumgezogen, Muff hatte zwei Lebkuchenherzen geschossen, Für immer Dein, weiß aufgespritzt, nur aus Spaß, wie Muff sagte, aber immerhin. Daß Dieter jemals mehr als Uschis Brüste in der Hand gehabt hatte, glaubte keiner, Dieter paßte nicht immer auf, wie weit er gehen konnte, er hatte schon mit allen Krach gehabt, vor drei Samstagen war er sogar mit einem Veilchen aus der Innenstadt zurückgekommen. Montags war er hinter einer Sonnenbrille im Betrieb aufgetaucht, und zuerst hatte Riko gedacht, jetzt fängt er an zu spinnen, jetzt will er auf Playboy machen und sich absetzen von uns. Aber dann hatte Dieter die Sonnenbrille abgenommen, sehr vorsichtig, gar nicht lässig, und Riko hatte ein blaues Auge gesehen, das beinahe so dunkel wie das Brillenglas gewesen war, schillernd, fast verfault, die Haut.

Riko lehnte Schläger ab, er hatte auch Angst, wollte nicht, daß Dieter eines Tags mit tätowierten Unterarmen ankam und sogar die eigenen Freunde aufpassen mußten, was sie sagten. Dieter konnte jemand quälen, hatte er ihn erst in seiner Gewalt, er war imstande, selbst einen Freund wie Dotz an den Haaren vom Boden hochzuziehen, das hatte er neulich gemacht, hinten im Park,obwohl Dotz einen Kopf kleiner war. [...]

Das war einer von jenen Abenden, an denen etwas los war, ein Geschehen, auf das sie warteten, wenn sie sich am Platz trafen, nicht eingestandene Hoffnungen, die plötzlich Gestalt annahmen, Sehnsüchte nach chaotischen Einbrüchen, nach Querschlägern im Tagesablauf. [...]

So standen sie hier herum, der Feierabend begann zu zerfallen, ein Frösteln im Herbst, ihre Körper waren noch den Sommer gewohnt, Kühle schob sich klamm zwischen sie und ihre Kleider, sie zogen das Genick ein, drückten die Schulterblätter zusammen, die Straßenlampen strahlten sirrend aus dem Dunkel herab. Sie setzten sich auf das hölzerne Geländer, es war braun gebeizt, fast schwarz, nur weiter drüben schimmerten zwei hellere Pfosten, die erst ein paar Wochen alt waren. Hier hatten sie Teile des Geländers einfach abgeräumt, ein Querbalken war gebrochen gewesen, Dieter hatte nachgefaßt und den nächsten Balken geknickt, und das Ganze wurde immer systematischer und sinnloser, aber es befriedigte auch, so sehr, daß keiner abhaute, nachdem sie fünf Meter Zaun zu Kleinholz gemacht hatten.

Plötzlich war ein Streifenwagen an den Bürgersteig herangefahren, und es war ein merkwürdiges Gefühl gewesen, dort einzusteigen, unter den Augen der Leute, die stehengeblieben waren und zuschauten, Riko und die anderen waren auf einmal aus den Schwarzweißfotos der Illustrierten in die Wirklichkeit getreten, weißt du noch, Al Capone im weißen Hemd, wie er grinsend in den Polizeiwagen stieg, oder war es Babyface Nelson? Wo blieb ihre Zigarre, wer schob die Daumen unter die Hosenträger, bevor er sich bückte, um auf dem hinteren Sitz zu verschwinden? Sie gewöhnten sich sehr schnell an die neue Situation, mußten sie auch, sie konnten ja nur stolz einsteigen und sich nicht verkriechen auf dem Rücksitz, gerade weil die Leute hineinguckten mit Gesichtern, als sähen sie hier die zukünftigen Gangster, die in ein paar Jahren den Stadtteil terrorisierten, wenn man sie nicht rechtzeitig die Härte des Gesetzes spüren ließ.

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