■ Europa-Euphorie der Elite kollidiert mit Volksempfinden: Sehnsucht nach Afrika
Die politische Elite in Portugal hängt mit Leib und Seele an diesem schönen Traum einer Staatengemeinschaft vom Atlantik bis zur Ägäis. Doch die Frau und der Mann auf der Straße verstehen diesen Euro-Enthusiasmus nicht so recht. Portugal ist ein armes Land, und vor nicht einmal 30 Jahren, zur Zeit der Salazar-Diktatur, war es kaum industrialisiert. So war der EU- Beitritt zwar einträglich, und die Subventionen aus Brüssel sind auch heute noch hochwillkommen. Doch für einen großen Teil der Bevölkerung war es nicht einfach, sich daran zu gewöhnen, daß das einstige Kolonialreich, das seinen Anfang in Lissabon und sein Ende gleichsam an der Küste Chinas hatte, heute auf ein kleines Dreieck am Atlantik reduziert ist. Von dem ihre Regierenden sagen, es sei ein Teil Europas. Eines Europas, das noch vor kurzem im Bewußtsein vieler Portugiesen etwas Vages war, etwas, das hinter den Pyrenäen lag.
Ich selbst bin erzogen worden in einem gesellschaftlich-politischen System, das uns lehrte, Portugal sei ein großes Land, das „der Welt viele neue Welten gegeben“ hat. Die „Entdeckung“ Brasiliens und des Seewegs nach Indien, die Kolonisierung großer Teile Afrikas gehören in diesen Kontext. 1963 bekam ich als Geschenk für einen guten Schulabschluß eine Ferienreise zur Insel São Tomé und nach Angola. Meine ersten Reportagereisen als junger Journalist führten mich nach Guinea-Bissau und Kap Verde. Ich mag es durchaus, Ferien auf den griechischen Inseln zu verbingen oder Berlin zu besuchen. Doch kann ich nicht vergessen, daß ich jahrelang Korrespondent in Angola und Mosambik gewesen bin. Meine Identität ist zweigeteilt. Ich habe ein starkes Gefühl, zu Europa zu gehören, doch nur zu einem Europa, das nicht aus den Augen verliert, was südlich der Algarve und Gibraltars geschieht. Die europäischen Staaten können noch so sehr die formalen Kriterien der Zugehörigkeit zur EU erfüllen, sie werden nie ganz dazugehören, wenn diese Zugehörigkeit nicht dem Gefühl der Menschen entspricht.
Viele Portugiesen sind in Afrika geboren, haben dort jahrzehntelang gelebt. 200.000 portugiesische Soldaten mußten in Afrika Kriegsdienst leisten. Sie kämpften im Kolonialkrieg, den Portugal von 1961 bis 1974 führte, weil es sich an seine Territorien klammerte. Erst nach dem Ende der Diktatur 1974 wurde deren Recht auf Unabhängigkeit respektiert. Danach kamen nicht nur die Soldaten zurück, sondern auch mehr als 600.000 Zivilisten. Insgesamt macht die Zahl der „Retornados“ nahezu ein Zehntel der portugiesischen Bevölkerung aus.
Für die Leute hat der derzeitige Europa-Diskurs einen schalen Beigeschmack. Sie hören nicht gern, wenn so getan wird, als ob Afrika in Portugals Geschichte nie existiert habe und sie exklusiv in Europa gemacht worden sei. Jorge Heitor
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