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Sehen, was ist!

Immer in Transformation: Die Osnabrücker Künstlerin Petra Höcker konfrontiert ihr Publikum mit seiner Verletzlichkeit. Das öffnet Augen

Kein Dornröschen, sondern ausgesprochen wach: Petra Höcker bei der Arbeit Foto: Carmen Hübner

Von Harff-Peter Schönherr

Teile kryptischer Körper, an Ketten hängend, von gewaltigen Fleischerhaken durchbohrt, wie geschunden und verwest, wie seziert und präpariert. Fasern wie aus Nervensträngen, Regenströme wie von Blut. Blicke wie unter die Haut, wie tief hinein in seltsame Organe. Kokonhüllen, als seien Geisterwesen ihnen entstiegen. Wer sich auf Petra Höckers expressive Bildwelten einlässt, braucht Assoziations-Mut und Sinn für die Geheimnisse der Seele – auch der eigenen. Kaschierende Oberflächen existieren bei der Osna­brücker Malerin und Objektkünstlerin nicht. Alles bei ihr ist Verletzlichkeit, ist schonungslose Entblößung.

Höcker, geboren 1966 in Osnabrück, zeigt Eruptionen, die nicht preisgeben, ob wir sie durch ein Mikroskop betrachten oder durch ein Teleskop. Sie taucht ein in brodelnden Urschlamm, reiht Relikte längst vergangener Evoluti­onen auf. Sie führt Schnitte wie durch Rückgrate, wie entlang an Sehnen. Sie konfrontiert uns mit einem Raum aus Neonlicht und Gaze, der uns nicht verrät, ob das, was wir in ihm sehen, eine Aufbahrung ist.

Höckers Welten sind verrätselt, geheimnisvoll und bizarr; schockhaft stark, in oft wilder Gestik und harten Farbwerten. Das ist intensivste Selbsterforschung und fordert uns zugleich die Erkenntnis ab, dass sich eine Gesellschaft, die sich hinter Fassaden sicher wähnt, unweigerlich ihr eigenes Gefängnis baut. „Sehen, was ist!“, sagt Höcker dazu.

Wer ihr gegenübersitzt, in ihrem hellen Atelier mit den stählernen Doppel-T-Trägern, erfährt potenziell Verstö­ren­des: Früher hat hier ein Bestatter gearbeitet, die Rampe für den Leichenwagen existiert noch. Aber ihre Kunst, so nackt und brutal sie teils wirkt, ist keine Reaktion auf diese Vorgeschichte – noch früher hatte Höcker ein Atelier, wo einst ein Schlachthof war. Sie erzählt das mit leichtem Schmunzeln.

Angefangen hat alles in der Grundschule. Mit einem Kunstlehrer, der etwas in Höcker sah und sie an die Staffelei stellte. Seither malt sie. Später kam die Dreidimemsionalität dazu, als Objekt, als Raum­installation. Vernetzt von Hamburg bis Köln, mit Ausstellungen von Finnland bis zur Türkei, ist Höcker gelungen, was KünstlerInnen nur selten gelingt: Sie kann von ihrer Kunst leben. Die Zeiten, in denen sie, um über die Runden zu kommen, parallel selbstständige Dekora­teu­rin war, sind vorbei.

Wer ins Obergeschoss hinaufsteigt, erlebt eine Überraschung: Ein Therapieraum öffnet sich. Eine Engelsfigur wartet hier; vor ihm ragen Vogelfedern auf, wie schamanistisch. Höcker bietet „Chakrenbalance“ an, „Visionäre Beratung“. Auch ein Gemälde von ihr hängt hier, ein riesiges Querformat. Ihre Kunst dient ihrer Therapiearbeit. Die wiederum generiert Themen und Motive für ihre Kunst. „Das belebt sich gegenseitig.“

Ein Wort, das Höcker mit besonderem Nachdruck sagt: Freiheit. Die Freiheit, die sie damit meint, ist auch die Freiheit von Erwartungshaltungen, denen des Kunstmarktes etwa. Dass sie in Osnabrück 2007 die „Produzentengalerie“ gründete, zielte in dieselbe Richtung: „Ich wollte Leben in die starre Galeriewelt bringen.“

Überhaupt: Leben. Aktiv werden, nach eigenen Prämissen. „Ich bin nicht Dornröschen!“, sagt sie. Und wer ihre abstrahierten, oft experimenthaften Arbeiten sieht, mal aus Schmerz geboren, aus Aufschrei und Wut, aber ebenso oft aus Helligkeit und Hoffnung, kann das bestätigen. Ob sie nun aus Acryl oder Leinen sind, Hanf oder Latex, Gaze oder Schaumstoff, rinnendem Wachs oder Plexiglas, Sand oder Ölkreide, Papier oder LED-Licht: Energie teilt sich mit, in der Malerei dann häufig reliefartig-skulptural, auf der Grenze zum Objekt.

Ihre Kunst dient ihrer Therapiearbeit. Die wiederum generiert Themen und Motive für ihre Kunst: „Das belebt sich gegenseitig“

Seit der Coronapandemie hat sich Höckers Kunst stark gewandelt. Dominierten vorher düsteres Rot und Schwarz, Grau und Blau, herrscht nun mehr Transparenz, mehr Licht, Fluoreszieren. Die Themen sind leichter, auch ist das Serielle der Einzelarbeit gewichen. „Ich bin aus der Bissigkeit raus“, sagt sie. „Ich bin in mehr Demut gebracht, in mehr Dankbarkeit.“

Das Element Erde hat bei Höcker einen hohen Stellenwert. Zuweilen begleiten Texte ihre Arbeiten. Das liest sich dann so: „Grabe deine Hände tiefer und tiefer / und auch deinen ganzen Körper ein, / versuche den Atem zu finden, / den Rhythmus der Erde zu spüren.“

Was als Nächstes entstehen soll, erspüre sie oft „meditativ“, sagt Höcker. Sie beschreibt das als „kontrollierten Zufall“. Vielleicht kommt ja wirklich eines Tages die Kinderschaukel zum Einsatz, die Höcker auf dem Sperrmüll gefunden hat. Im Moment lehnen de Einzelteile neben ihrem Farbregal. Kontrollierter Zufall – was das heißt? Bei Höcker kann viel passieren. Eigentlich alles. Immer. „Wir sind inmmer im Wirbel des Lebens“, sagt sie. „Wir sind immer in Transformation.“

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