: Seekrank
O Meer!
O mores!
Von Aufruhr und Kämpfen
bleibt im Kämmerchen nur Luft,
von der Meeresnähe
– kühler Duft.
Also trinken wir doch erst mal Tee ...
Zweimal Glas von gleicher Art:
mein Trinkglas hier, und dort das Fensterglas,
ich guck hindurch, durch dies, durch das,
will sehen, wie im Dunst das Dunkel blinzelt
hinter den geschliffnen Rippen ...
Wozu es leugnen:
mein Glas ist aus Kristall, hat einen Klang.
Ich ahne nicht, was mir da schwant.
Sch-w... wetzt man die Messer,
br-r... schnaubt das Pferd,
fährt!... schreien sie und springen von den Bäumen.
Reiter... unters Räubermesser.
Pferd wird weggeführt den langen Schnee entlang ...
Schnee mit Sand vom abendlichen Aufbrühn – braun.
Dort geht die Brandung eine unbekannte Tanne schmücken,
eine Möwe, ihre Krallen in die schmutzigweissen Wellenkämme drückend,
steuert deren Lauf.
Und da ist er auch schon, autsch! – der Strand,
hoch wirbelt Schnee, Windhose voller Flocken,
als rührte jemand – ja, das Bild ist wohlbekannt –
im Teeglas Zucker auf, wie eine Wolke.
Ein bißchen süsser ist das Ganze schon,
das Pulver hat sich aufgelöst, ist weg ...
Gelegt hat sich der Schnee, derweil vom Horizont
allmählich der Zitronenring sich hebt,
es schwebt als Zifferblatt Die Zeit, als Mond.
Wozu bloss mit dem Löffel klirren? –
Die Risiken Der Stunde stecken in der gelben Rinde,
dazwischen schwillt das Fruchtfleisch – wird es
die Trennmembranen bald zum Platzen bringen?
Die Zeit ist vom Geschmack her sauer, Geruch
und Farbe hat sie nicht ...
Im übrigen – das Klirren mit dem Löffelchen ist reiner
Selbstbetrug, echot auf diesen feinen
Klang doch nur das Glas,
wogegen Zeit – ist antwortlos, wie alles, was
uns glauben macht, wir hätten Macht
über uns selbst.
In jedem Gegenstand, ob lebend oder tot,
ist Zeit beschlossen, nur nicht in ihr selbst. Dort –
zum Beispiel jene Möwe, kaum gestartet, zeigt
um zehn Minuten vor zugleich die Stunde zwei,
Und in der finstern Tiefe, phosphoreszierend,
glimmt ein polyglotter Fisch ...
Menschen gibt's hier nicht ... Doch wo sind Menschen hier?
Nichts von dem, was wesentlich zur Basis und zum Überbau gehört,
zielt höher als die Trojka, die noch immer fährt
mit ihren Tschitschikows* – quer durchs Revier ...
Graue gibt's und rosige, nur eben Menschen
gibt es keine hier. Es gibt nur Meer und Meer und Meer,
und Meeresluft im Kämmerlein – noch mehr!
Und schwere Brecher, bebend Fleisch, vorm Fenster ...
im Glas zuunterst – letzte Süsse, tiefste Schicht,
doch mit dem Löffel, rührend, kommt man ihr nicht bei,
sie setzt sich fest als Zuckerkruste, hart wie Bein,
am Fuss des Glases, kaum bespült vom Rest der Gischt ...
Hier ist der Himmel in den Sternen, wie ein Kosmonaut,
doch Kants Imperativ ist absolut entbehrlich,
Die Zeit bleibt leer, sie ist ganz ungefährlich,
im Unterschied zu einer Landschaft, die aufs Auge haut ...
Ich hätte wie ein Cicero hier glänzen können,
doch alle Wörter werden mir zu Tennisbällen,
und so muß ich mein ausgebuhtes Hirn versöhnen
mit der Gurgel, aus der wortlos Schäume quellen...
Und nur der Möwenschrei, der durch den Nebel zischt,
Erinnert mich daran, daß hier noch Festland ist ...
*) Tschitschikow – die negative Hauptfigur in Gogols Roman-Poem „Die toten Seelen“, wo an einer vielzitierten Stelle Rußlands historisches Schicksal mit einer „dahinfliegenden Troika“ verglichen wird.
(aus: „Fünfkampf der Gefühle“ [Pjatiborje tschuwstw], Moskau 1990)
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