: Screen oder Buch?
Elektronisches Publizieren: Wo bleibt die zweite Kommunikationsrevolution? ■ Von Heiko Idensen
Den Terminal anschalten, „taz“ eingeben und in ein elektronisches Netzwerk gelangen, in dem neben den Texten der heutigen taz schon Entwürfe für die morgige Ausgabe, Anmerkungen, Anfragen, Kommentare und Kritiken abrufbar sind. Alle Leser sind mit der Kompetenz des „Säzzers“ ausgestattet. ... Netzwerke des Schreibens, freier Zugang zu allen Terminals, alles kann mit allem verbunden werden...
Während der nächste Angriff multi-medialer Konzerne den einsamen User mit Sound-Karten, Multi- Media-Erweiterungen, Nachschlagewerken und Produktverzeichnissen auf CD-ROM ködern will, schlage ich vor, zunächst erst einmal das Schreiben am Computer zu revolutionieren...
...und dazu das Buch Elektronisches Publizieren. Eine kritische Bestandsaufnahme zu Hilfe zu nehmen:
Die AutorInnen fassen in diesem problemorientierten und kritischen Hand-, Nachschlage-, und fundierten Praxis-Buch die Ergebnisse einer interdisziplinären Studie zusammen, werten Befragungen, eigene Erfahrungen und empirische Erhebungen bei Autoren und Verlagen aus, um die vielfach verschlungenen Wege elektronisch erfaßter Dokumente durch die gesellschaftlichen Kommunikationskanäle zu verfolgen. Im Gegensatz zu den endlosen Debatten über die Veränderung der Schreibtheorien beziehungsweise den elektronischen Selbsterfahrungskapriolen in deutschen Feuilletons, finden hier alle am Computer Schreibenden eine Fülle Hintergrundwissen, kritische Reflektion der eigenen Praxis und viele nützliche Hinweise und Tips zu Datenbankrecherchen, zur Dokumentenstruktur für eine elektronische Weitergabe, zu verfügbaren Disketten- und CD-ROM-Publikationen (wie Kants Gesammelte Werke, 80 Disketten Goethe, cirka 100 Disketten zum Nachlaß Robert Musils, Flusser: „Die Schrift“ als Buch und Diskette) nebst umfangreicher Bibliografie...
Die Veränderung der Kompetenzen, Rollen und Zugriffsmöglichkeiten von Autoren, Verlagen und letztlich auch den Lesern wird entlang der „elektronischen Kette“, die die Texte vom Schreiben am Computer bis zur Veröffentlichung durchlaufen, im Detail durchschaubar gemacht und problematisiert (etwa am Beispiel technologischer Zugangsbarrieren für elektronische Publikationen als Eingriff in die freie Zugänglichkeit von Informationen).
Ein zentraler Lesepfad führt die vielfältigen Eingriffe in das innere Gefüge alphabetischer Kultur durch die Technisierung des Schreibens aus: Eine Überspielung des Talmud (inklusive 250 Bänden Auslegung) auf eine Datenbank an der Universität Jerusalem wirft die Frage auf, ob das Wort „Gott“ entsprechend der orthodoxen Lehre auch am Computerschirm nicht gelöscht werden darf.
Und während die naiven User immer noch so tun, als würden sie am Computer „schreiben“, und dabei übersehen, daß sie lediglich „Tasten drücken“, einen Code bedienen und erzeugen, läuft vor ihren Augen eine Visualisierung von Denkprozessen ab: psychisches Netzwerk, Prozessieren von Ideen, Schalten von Lese- Schreibprozessen, Projizieren auf den Schirm, Importieren von Zitaten und Verweisen, Komponieren und Kompilieren aus gespeicherten Text- Fragmenten:
„Eigentlicher Publikationsinhalt ist dann nicht mehr der Text, sondern die Wissensstruktur selbst.“
Dieses modularisierte Schreiben führt zu einer Verflüssigung des Textens, das — unterstützt durch Interaktion mit den Editier- und Verknüpfungs-Operationen des Computers — sich nun eher wie lautes Denken abspielt.
Dieser „wunderbare Schwebezustand“ des mit Gedankengeschwindigkeit auf der virtuellen Oberfläche des Computers generierten Textes wird leider in den meisten Fällen wieder auf Papier gebannt. (Nur ein Prozent der Weltinformation zirkuliert rein digital!) Bis auf Computerspiele, Recherchen in Fachdatenbänken oder Reisen in Mailboxen haben sich die Vernetzungsmöglichkeiten des elektronischen Publizierens noch nicht in entsprechenden Veröffentlichungsformen, -kanälen und Netzwerken niedergeschlagen: Die eigentliche Revolutionierung der Informationstechnologie steht noch aus!
Als kleine Vorwegnahme der Utopie eines global vernetzten Publikationssystems, in dem Lesen, Schreiben und Veröffentlichen in einem Akt zusammenfallen, kann das in letzter Zeit viel diskutierte Konzept Hypertext angesehen werden. Statt das rein lineare Schreiben zu unterstützen, bieten Hypertextsysteme eine Oberfläche, auf der Informationen vernetzt und verknüpft werden können.
Der Leser der taz brauchte dann nur die jeweils für ihn interessanten Worte im Text berühren, und er würde an entsprechende Textstellen, Beispielprogramme gelangen, könnte selbst dort weitermachen, wo dieser Text endet.
Wer sich fragt, warum das Buch nicht gleich als ausführbares Computerprogramm herauskommt, und die beiliegende Bestellkarte für ein Softwarebeispiel — Mac oder PC — zum Projekt „Elektronisches Publizieren“ vermißt, melde sich bei einem der Autoren unter 07247/822989!
Ulrich Riehm, Knud Böhle, Ingrid Gabel-Becker, Bernd Wingert: Elektronisches Publizieren. Eine Kritische Bestandsaufnahme. Mit 35 Abbildungen und 17 Tabellen. Springer-Verlag, Berlin, Heidelberg 1992, 440Seiten, 68Mark.
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