: Schwindende Industrie
■ Wirtschaftssenator zieht Bilanz vor dem Hintergrund mäßig wachsender Dienstleistung und fehlender Bundesregierung
20.000 Gewerbebetriebe in Ostberlin sind zwischen Juli 1990 und April 1993 wieder eingegangen. Nach Einschätzung von Wirtschaftssenator Norbert Meisner (SPD) sind die Loser vor allem unter jenen zu finden, die den Darbietungen dessen, was die kapitalistische Welt hat, vorschnell erlegen sind, den Betreibern von Videotheken und Restaurationen.
Trotz dieser trüben Tendenz bescheinigt Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftforschung unter den Dienstleistungsunternehmen Berlins alleinig der Gastronomie das Niveau bundesdeutscher Großstädte. Zwar sind Essen und Trinken wichtig für das Image, die entscheidenden Impulse für den Wirtschaftsstandort Berlin erhofft sich Meisner jedoch von den produktionsnahen Dienstleistungen. Wie er gestern erklärte, habe der Senat die Grundsatzentscheidungen für ein solches Strukturkonzept bereits getroffen. So sei mit dem Konzept zur Flächensicherung 21 bedeutsamer Industriebetriebe den Verdrängungstendenzen ein Riegel vorgeschoben.
Innovationen erhofft sich der Wirtschaftssenator vor allem von der Nutzung des Wissenschaftspotentials der Stadt, wie beim Vorzeigeprojekt Adlershof. Bis zur Jahrtausendwende solle auf dem 76 Hektar großen Gelände „eine integrierte Landschaft aus Wirtschaft und Wissenschaft“ entstehen. Gegenwärtig existieren bereits 110 Ansiedlungen, davon 13 wissenschaftliche Einrichtungen und 97 klein- und mittelständische Unternehmen. Dies sei „exemplarisch für die wirtschaftspolitische Konzeption des Senats“.
Wenig Einfluß hat diese Konzeption hingegen auf die 75 Westberliner Industriebetriebe, die den Umzug ins Umland planen. Für sie hat die Stadt nach Wegfall der Berlinförderung an Attraktivität verloren. Meisner findet, diese „freie Standortwahl ist ganz normal“. Mit Brandenburg sei abgesprochen, „daß es kein Absaugen in den Speckgürtel gibt“, es sei denn, „wir verständigen und auf die Förderung“. Unbeeindruckt von der Konzeption zeigen sich auch zwei wesentliche Rahmendaten. Die Entwicklung des Dienstleistungssektors wird sich, nach Meisners Worten, vor allem danach richten, wann die Entscheidung über den Umzug der Bundesregierung unumkehrbar ist.
Die positiven Entwicklungstendenzen des Standortes Berlin würden zudem derzeit von den Folgen der wirtschaftlichen Rezession Deutschlands überlagert. Trotzdem sei der Anstieg des Bruttoinlandsproduktes in Ostberlin mit 8 Prozent um 1,2 Prozentpunkte über dem Niveau der neuen Bundesländer, die Gewerbeanmeldungen würden mit einer Zahl von 63.500 die besagten Abmeldungen weit übersteigen. dr
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