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Schwierige GeschichteDer lange Weg zum Gedenken

In einem Wald am Russee bei Kiel erinnern Tafeln und ein Gedenkstein an das "Arbeitserziehungslagers Nordmark".

Steht seit 2003: Gedenkstein auf dem Gelände des ehemaligen Arbeitserziehungslagers Nordmark bei Kiel. Bild: Frank Keil

KIEL taz | Im Kieler Ortsteil Russee, wo die Stadt langsam ausläuft, kommt ein schmaler Weg, der über eine Wiese in Richtung des Russees führt und weiter an dessen leicht bewaldetem Ufer. Und da stehen sie: drei Stelltafeln, die sich ganz leicht neigen, und ein Stein mit Namen, umgeben von Buchen und Erlen. Hier also stand das „Arbeitserziehungslager Nordmark“, wohin die Gestapo vom Frühjahr 1944 bis Anfang Mai 1945 Zwangsarbeiter und auch Zivilarbeiter verschleppte, die angeblich nicht ordentlich schufteten oder sich der Arbeit verweigerten, zu der man sie zwingen wollte.

Die in Russee untergebrachten Häftlinge, mehrheitlich Zwangsarbeiter aus Polen und der Sowjetunion, wurden in der zunehmend zerstörten Kieler Innenstadt zum Abtragen der Ruinen und zum Bergen der Blindgänger gezwungen. Doch auch örtliche Firmen profitierten von ihrer Arbeitskraft: unter anderem die Holsten-Brauerei, das Betonbauunternehmen Ohle und Lovisa, die Nordland Fisch-Fabrik.

Zu Tode geprügelt

Arbeitserziehungslager

Reichsweit gab es bis zum Ende des Krieges 200 sogenannte Arbeitserziehungslager, in denen Zwangsarbeiter diszipliniert werden sollten.

Errichtet wurden sie ab 1940 von der Geheimen Staatspolizei.

Standorte in Norddeutschland waren in Liebenau bei Hannover, bei Osnabrück und in Oldenburg, in Bremen-Blumenthal, in Hamburg-Wilhelmsburg und in Kiel-Russee. FRAK

4.000 bis 5.000 Häftlinge sollen insgesamt in Russee gewesen sein. Mehr als 550 von ihnen sind nachweislich ums Leben gekommen: hingerichtet, erschossen, zu Tode geprügelt. „Wenn ich nicht arbeitete und in meinem Haus war, konnte ich sehen wie die Häftlinge von der Wachmannschaft des Lagers von morgens bis abends verprügelt wurden“, sagte ein Anwohner später den britischen Ermittlern. Als die britische Armee Anfang Mai 1945 in Kiel einrückte und auch in Russee vorbeikam, entdeckte sie in dem von den Wachmannschaften aufgegebenen Lager Hunderte von halbverhungerten Häftlingen.

Die britischen Behörden waren in den kommenden zwei Jahren sehr darauf bedacht, die Verantwortlichen zu ermitteln, zu verhaften und auch abzuurteilen. So findet im Curio-Haus im Schatten der Hamburger Universität im Jahre 1947 nicht nur der Prozess gegen die Lagerleitung und die Wachmannschaften des KZ Neuengamme statt, sondern auch gegen die Verantwortlichen des Arbeitserziehungslagers Nordmark.

Justiz hat keine Eile

Zum Tode verurteilt und hingerichtet werden der Lagerkommandant Johannes Post und der Lagerleiter Otto Baumann. Andere erhalten zwar langjährige Freiheitsstrafen, werden aber bald entlassen. Denn schnell übernimmt die deutsche, im konkreten Fall die Kieler Justiz. Die aber hat es nicht eilig, weitere Täter zu ermitteln, zu befragen und vor Gericht zu stellen.

Symptomatisch ist das Vorgehen gegen den Kieler Gestapochef Fritz Schmidt, dem das gesamte Personal des Arbeitserziehungslagers Russee unterstand: Erst 1963, nachdem Schmidt für den Bremer Senat und vermutlich auch für den Bundesnachrichtendienst gearbeitet hatte, wird er in Untersuchungshaft genommen und vor Gericht gestellt. Die zwei Jahre Haft, zu denen er verurteilt wird, werden mit der Untersuchungshaft abgegolten. Auch die Wachmannschaften kommen weitgehend ungeschoren davon.

In Russee selbst wurden nach der Befreiung in den Baracken erst Displaced Persons untergebracht, dann Vertriebene aus den sogenannten Ostgebieten. Als der Flüchtlingszuzug langsam abebbt, werden die Holzbaracken nach und nach abgerissen und das Gelände großflächig in einen Gewerbepark umgewandelt.

Nur das Fundament des einstigen Gästehauses der SS, einer der wenigen Steinbauten, ist heute noch zu sehen. Auch wenn sich nach den bisherigen Forschungen dort wohl nie irgendwelche überregionalen SS-Größen oder Nazi-Schergen daufhielten, ist es doch eine merkwürdige Fügung, dass allein von diesem Gebäude noch Spuren erhalten geblieben sind.

Dass es diesen Gedenkort überhaupt gibt, ist das Resultat eines jahrzehntelangen Bemühens verschiedener Kieler Gruppen, den Ort nicht ganz dem Vergessen zu übereignen. Zwar hat es in den unmittelbaren Nachkriegsmonaten einen ersten Gedenkstein gegeben. So weit man bisher weiß, wurde er 1946 oder 1947 von ehemaligen polnischen Zwangsarbeitern errichtet.

Warum er wieder verschwand, ist nicht bekannt – als Mitte der 1960er-Jahre kirchliche Kreise einen Gedenkort für Russee fordern, schweigen sich die Verantwortlichen der Stadt aus. Erst als Ende der 1980er-Jahre gegen einen Kieler Gestapo-Beamten ein letztes großes Verfahren eröffnet wird, rückt auch das ehemalige Arbeitserziehungslager wieder ins Bewusstsein. Keine der in der Kieler Ratsversammlung vertretenen Parteien ist gegen eine mögliche Gedenkstätte – aber auch nicht wirklich dafür. Als die Grünen in die Ratsversammlung einziehen, gibt es die nächsten Impulse. So folgt ein fraktionsübergreifenden Antrag in der Kieler Ratsversammlung, in Russee ein Dokumentationszentrum zu errichten. Alle stimmen zu – doch nichts passiert.

Erst als Ende 2000 die Reste des ersten Gedenksteins entdeckt werden, wird die Stadt tätig und bittet den Arbeitskreis zur Erforschung des Nationalsozialismus in Schleswig-Holstein (Akens), EU-Mittel einzuwerben, damit in Russee ein Gedenkort errichtet werden kann. Die Stadt gibt ihren Anteil dazu, die Pflege des Ortes übernimmt fortan das örtliche Gartenbauamt. Zur Einweihung am 27. Januar 2003, dem Holocaust-Gedenktag, kommen städtische Repräsentanten vorbei. Das ist es dann – bis zum nächsten 27. Januar.

Kiel war Gauhauptstadt

Bis heute gibt es in Kiel keinen zentralen Gedenk- oder Dokumentationsort, der über die Zeit des Nationalsozialismus, seine Vorgeschichte und die spätere, verschleppte Aufarbeitung informiert. Auch das Stadtmuseum bietet keine ständige Ausstellung zu diesem Themenkomplex an. „Dabei war Kiel doch Gauhauptstadt“, spottet Eckhard Colmorgen von Akens. Nach seiner Meinung könnte das sehr zögerliche Agieren der Stadt mit der engen Anbindung an die örtliche Rüstungsindustrie zu tun haben– die noch einmal Thema werden würde, würde man allzu genau zurück in die NS-Zeit blicken.

Colmorgen erinnert an die alte Villa in der Düppelstraße in der Kieler Innenstadt: Sie würde sich seiner Meinung nach gut für ein Kieler Dokumentationszentrum eignen. Heute hat hier die Kieler Polizeiwache 1 ihren Sitz. Früher war in der Villa die Kieler Gestapo untergebracht.

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2 Kommentare

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  • US
    Ulrich Stenzel

    Hm, dieser Kommentar enthält viel Richtiges! Mich stört aber die sprachliche Unschärfe, die durch die Bemühung der Komparative (Brutalstmöglich, unkontrollierter als anderswo) deutlich hervortritt. Das mindert die Aussagekraft dieser Bemerkung!

  • DR
    dirk reimer allbronn

    Kiel mit seiner 35-jährigen SPD-Bürgermeistertradition (1968-2003) ist eben in vielerlei Hinsicht immer noch piffigstes NS-Provinz: Was in viel kleineren Orten des Landes mit Engagement und Eigeninitiative an schlichten KZ-Gedenkstätten errichtet wurde, ist in Kiel noch lange kein Grund zum Handeln. Nicht mal die ehemalige, aus Kiel stammende SPD-Ministerpräsidentin Heide Simonis interessierte sich für das Thema. Was man so läuten hört: Es geht ja auch so. Fällt ja gar nicht auf. Touristen sollen Schnaps kaufen, nicht fragen. Gibt halt 3 Steine im KZ-Russee, das war's.

    Ahrensbök, Husum, Ladelund, Kaltenkirchen-Springhirsch haben längst eigene Gedenkstätten unter größten finanziellen und organisatorischen Schwierigkeiten herrichten können und verzeichnen wachsende Besucherströme. (Die TAZ könnte mal darüber berichten.) Hamburg hat mit dem Abriß zweier Zivilknäste erst das ganze riesige Gelände und viele erhaltene (!) Gebäude des KZ-Stammlagers Neuengamme zugänglich gemacht. Niedersachsen hat im KZ (und Kriegsgefangenenlager) Bergen-Belsen eine würdige Gedenkstätte mit großen Ausstellungen geschaffen.

     

    Die Landeshauptstadt Kiel aber, mit seinem brutalstmöglichen Gestapo-KZ, in dem die barbarischen Zustände noch unbeschreiblicher und unkontrollierter als andernorts waren, stellt sich taub. Bürgermeister vieler Fraktionen ignorieren ein Thema, das an dem von der Stadt selbst mitgeschaffenen, "sauberen" technischen U-Bootmythos bedenklich kratzen könnte: In Kiel wurden unter den Nazis viele Zwangsarbeiter in der Werftindustrie eingesetzt, und das unter regelmäßig menschenunwürdigsten, blutigen Überlebensbedingungen.

     

    Davon erfährt man dürftig-elementares nur, wenn man in einem abseitigen Russeer Grüngelände die besagten 3 Steine befragt.

     

    Der neue Ministerpräsident Albig (SPD) kennt die erbärmlich primitiven Russeer Verhältnisse (Steinzeit) , wird sich aber schön in der von den Kieler Kanalarbeitern vorgezeichneten Rinne der Langzeitignoranz halten. Es sei denn die Grünen treten ihm mal linksaugenzwinkernd auf die Füße.