: Schwierige Arbeit der Kontemplation
Wolfgang Laibs Kunst des „inneren Überlebens“ – im Städtischen Kunstmuseum Bonn ■ Von Thomas Fechner-Smarsly
Bis auf die steinerne Platte ist der Raum völlig leer. Trotzdem spürt man sofort die verhaltene Magie und das dezente Leuchten, das von ihm ausgeht. Die Quelle dieser künstlichen Helligkeit ist unmittelbar auszumachen, aber es braucht seine Zeit, bis einem klar wird, worin ihre Irritation besteht. Die steinerne Platte, die dort in der Mitte des Raumes auf dem Boden liegt, leuchtet zu stark, ihr Weiß ist zu gleichmäßig, ihre Oberfläche spiegelt zu klar, als daß es sich wirklich nur um fein polierten Marmor handeln könnte.
Der „Milchstein“ ist eine von insgesamt neun Arbeiten Wolfgang Laibs, die zur Zeit im Bonner Städtischen Kunstmuseum zu sehen sind. Hierbei hat Laib in eine flache, quadratische Marmorplatte eine Vertiefung eingegraben, die zum Rand hin unmerklich ansteigt. Das so entstandene ,Becken‘ füllte er mit Milch auf, so daß der ursprüngliche Zustand optisch wiederhergestellt wurde – mit dem Unterschied einer kaum erkennbaren Erhöhung durch die Oberflächenspannung der Flüssigkeit.
Laibs „Milchsteine“ verkörpern im Grunde alle wesentlichen Elemente und Eigenschaften, die sein Werk als Ganzes ausmachen. Das Spannungsverhältnis zwischen anorganischen und organischen Stoffen, zwischen festen und fließenden (oder flüchtigen) Formen, zwischen glatter Oberfläche und einer wörtlichen oder metaphorischen Tiefe, zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren. Insofern ist Laibs Kunst auf eine merkwürdige, nahezu paradoxe Weise angesiedelt zwischen fragiler Sinnlichkeit und einer Vergeistigung, die sich durch Materialbezug und ,Bodenhaftung‘ auszeichnet. (Tatsächlich sind viele seiner Arbeiten für den Fußboden konzipiert und dort ausgelegt oder -gestreut.)
Das trifft auch auf seine „Reishäuser“ zu, die in ähnlicher Gestalt bereits auf der Documenta 1987 zu sehen waren. An den Seitenwänden dieser länglichen, auf ihre wesentlichen geometrischen Grundformen reduzierten ,Häuser‘ wurde Reis zu kleinen Haufen aufgeschüttet. Es entsteht der Eindruck einer Opfergabe, der durch die schreinartige Form dieser Gebilde aus Marmor oder mit rotem Siegellack bemalten Holz noch gesteigert wird.
Gerade am Beispiel der „Reishäuser“ wäre es leicht, auf den biographischen Hintergrund zu verweisen und damit alle Fragen ein für allemal zu erledigen. Nach seinem Studium der Medizin hat Laib als Arzt nie praktiziert, wohl aufgrund seiner kritischen Haltung gegenüber der westlichen Medizin. Statt dessen verbrachte er längere Zeit in Indien, und die Beeinflussung durch den Buddhismus ist in seinen Arbeiten allenthalben wahrzunehmen. Ihr Material ist ebenso elementar wie ihre Formensprache, ihre Aussage gleichermaßen konzentriert und geprägt von einer geradezu asketischen Haltung.
Stein und Milch, Messing und Reis, Wachs und Holz verbindet Laib in geometrischen Grundformen: Kreis und Quadrat, Kegel und Quader. Deren Abstraktion zielt auf einen geistigen Prozeß, der sich weder auf ästhetische noch intellektuelle Erfahrung reduzieren läßt. Versenkung, Meditation, Kontemplation wären mehr oder weniger synonyme Begriffe für diese Tätigkeit. „Die moderne westliche Gesellschaft hat keinen Sinn für die schwierige Arbeit der Kontemplation, die ganz besondere Bedingungen voraussetzt, und sie entwickelt keine Kontemplation – mit Ausnahme einer bestimmten Art reiner, insgeheim heiliger Kunst, wie der von Laib“, schreibt Donald Kuspit im Katalog.
Trotz dieses unverkennbaren Einflusses östlicher Philosophie und Religiosität bleibt Laibs Werk tief in einer Tradition westlicher Ästhetik verwurzelt. Und gerade daraus resultiert seine Spannung. Diese Verwurzelung wird schlagartig deutlich an einer ebenso stillen wie spektakulären Arbeit – wenn das Wort in diesem Zusammenhang überhaupt je angebracht ist: ein Quadrat aus Blütenpollen, in langwieriger Arbeit gesammelt, dessen Gelb eine intensive Leuchtkraft entwickelt. Solch sichtbare Erscheinung von natürlicher Energie verstärkt sich noch durch die unscharfen, scheinbar flimmernden Ränder. Nicht von ungefähr erinnert das Farb-Quadrat vor allem an Bilder von Mark Rothko, aber natürlich auch an Yves Klein und Kasimir Malewitsch.
Doch was Laib vollführt, ist nicht einfach eine Verlängerung, sondern gleichsam die Transzendierung des Suprematismus. Sie äußert sich in einer doppelten Bewegung: einer ,Vergeistigung‘ der geometrischen Form (des Quadrats) und der malerischen Substanz (der Farbe bzw. des Pigments). Zugleich jedoch führt er die Kunst zu ihrem materiellen Ursprungsort, zur Natur zurück. Und zwar nicht allein durch das Material, sondern auch durch den Prozeß, der ins Werk eingeht (das Sammeln des Pollens), und als Zeremonie des Ausstreuens an einem dafür besonders ausgewählten Ort (dem Museum).
Die asketische Zurückhaltung und die Betonung elementarer Bedürfnisse, die aus allen seinen Werken spricht, verleugnet dabei keineswegs deren ausgesprochen sinnliche Qualität. Besonders deutlich wird dies im ,Allerheiligsten‘ der Ausstellung, dem zentralen Raum, um den herum die übrigen gruppiert sind. (Wobei, mit einer Ausnahme, aber ansonsten wunderbarer Verschwendung, je ein Raum für ein Werk zur Verfügung steht.) Auch hier, im Innersten, ist die Wirkung ebenso unmerklich wie unmittelbar; ein leicht süßlicher Geruch, nicht zu eruieren oder genauer zu bestimmen, bis man den Raum im Raum betritt: von außen ein weißgetünchtes, viereckiges Gehäuse mit einem schmalen Eingang. Drinnen, von einer nackten Glühbirne (im wahrsten Sinne des Wortes:) erleuchtet, eine Art Gang mit einer steilen Treppe, die unter der Decke endet. Der gesamte Innenraum ist aus Bienenwachsblöcken ,gemauert‘. Und so einfach sich der betörende Duft erklärt, so nachhaltig wirkt dieser mystische Raum. Trotz seiner Enge fühlt man sich alles andere als beengt, trotz der Assoziationen an die Grabkammern der Pharaonen strömt er eine goldene Wärme aus, die Euphorie erzeugt. Spätestens hier fühlt man sich an Joseph Beuys erinnert (womit eine weitere Traditionslinie der Moderne benannt wäre), und in der Tat ähneln sich die Themen: die Grundbedürfnisse des Menschen – Wärme, Geborgenheit, Nahrung – seine Beziehung zur Natur, sein Verlangen nach geistiger Tätigkeit. Doch ganz im Gegensatz zu Beuys ist Laib kein ,homo politicus‘.
Donald Kuspit hat dessen Werk daher auch als eine „Kunst des inneren Überlebens“ bezeichnet: Laib „zieht sich auf das Essentielle der Natur zurück, um in einer Gesellschaft zu überleben, die den überindividuellen Zusammenhang, der sich in der Natur am deutlichsten manifestiert, verleugnet oder trivialisiert, jenen Zusammenhang, in dem das individuelle Leben seinen Ort hat, und auf den es angewiesen bleibt“.
Durch die Konsequenz dieses Rückzugs unterscheidet er sich von einem Künstler wie Beuys, bei dem das Individuelle, und damit die Einbindung in den historischen Prozeß, oftmals und absichtsvoll sichtbar blieb. Vielleicht ist diese besondere Art des Ausdrucks elementarer Bedürfnisse und des Zurücktretens individueller Kommentare nur um den Preis der Enthistorisierung zu haben.
In seinem Bezug auf westliche Tradition verdeutlicht Laib eine Differenz, die er zugleich zu überbrücken sucht. Von einer heilenden Kunst zu sprechen, wie verschiedentlich getan wurde, erscheint mir ein wenig die gegenwärtigen Möglichkeiten von Kunst zu übertreiben. Hingegen drückt sich der Versuch aus, zu vermitteln zwischen Konzentration und Kontemplation, zwischen Erkenntnis und Erleuchtung, zwischen Kunst und Natur.
Wolfgang Laib. Städtisches Kunstmuseum Bonn. Katalog 50 DM. Noch bis zum 24.1.93
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