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Schwestern im Schmerze

Die sumpfige Einsamkeit, die unter den Armen und zwischen den Schenkeln juckt: Edith Clever spielt Einar Schleefs „Gertrud. Ein Totenfest“ im Berliner Ensemble – und sucht in dem Monolog nach dem Skandal des Älterwerdens

Gertrud ist einsam. Ihre Einsamkeit begann, lange bevor in den Städten der „Single“ als urbanes Marktsegment entdeckt wurde. Ihre Einsamkeit ist maßlos und sumpfig, sie breitet sich aus wie eine dunkle Landschaft. Der Mann liegt im Grab, seit zwanzig Jahren schon; die Söhne, in den Westen geflohen, haben sie verlassen; von Nachbarn und Freunden trennt sie ein Misstrauen, das in Geschichten von Kontrolle und Verrat wurzelt.

Die Einsamkeit malträtiert ihren Körper: „Meine Arme sind voller Hitzepickel. Gekratzt. Hoffentlich wird es nicht schlimmer. Achselhöhlen, zwischen den Schenkeln, wenn’s der Arzt sieht, kann da nicht hin, früh und abend pudern, es nässt, und ich kratze weiter. Am Rücken, Wirbelsäule lang, mir den Feuerhaken spitz gewetzt, schabe, knuple, steche. Vorm Spiegel mich bestrafen. Jeden Morgen mein Leib.“

Einar Schleef hat diesen Text geschrieben, ein Monolog von 900 Seiten, über seine Mutter. Anfang der Achtzigerjahre sind die „Gertrud“-Bände bei Suhrkamp erschienen und trugen zu dem Bild von einem Autor/Regisseur bei, der sich stets an den Grenzen des Unaushaltbaren bewegt. Wie eine Schlammlawine gossen sich die Sätze über den Leser, sogen ihn auf in Gertruds Körperhöhle. Die Sprache schien unmittelbar aus dem Gedächtnis eines Körpers zu kommen, in den Geschichte sich mit der Kraft von Eisbergen eingegraben hatte.

Von diesem Text hat Edith Clever mit dem Dramaturgen Dieter Sturm eine Bühnenfassung erarbeitet, die im Berliner Ensemble und am Burgtheater Wien aufgeführt wird. Edith und Gertrud: Das klang nach der Verschmelzung zweier Riesinnen. Edith Clever war Klytaimnestra, Penthesilea und Medea: Welche Ungeheuerlichkeit auch immer die abendländische Kulturgeschichte den Frauen aufgebürdet hat, sie hat sich dagegen gestemmt, in eigener Regie und unter Peter Stein und Syberberg.

Der Text ist eine Zumutung und juckt noch immer an jenen Stellen, an denen öffentliches Kratzen tabuisiert ist. Gerade dieses Gespür für den Verfall und die Panik, die sich in der Selbstbeobachtung der Einsamkeit jede Sekunde vergrößert, hat Edith Clever angezogen. Das Altern als ein Skandal, der verborgen werden muss, aller Aufgeklärtheit zum Trotz: Es gibt allen Grund, sich davor zu fürchten. Aber in „Gertrud. Ein Totenfest“ ist die Beunruhigung verschleiert. Der Gefahr der Verwahrlosung, gegen die die Sprache unablässig mauert, werden wir nicht ausgesetzt.

Das Bühnenbild ist aufgeräumt und die Schauspielerin ein Muster an Disziplin. Sie gießt den ausufernden Text in scharf konturierte Posen. Ihr Körper hält immer wieder inne, wie von einem Bildhauer gemeißelt. In ihren Gesten nähert sie Gertruds Schmerzen den Bildern von Heiligen an. Sie nimmt den Dreck und den Ekel weg, das Bedrohliche und Verschlingende der Sprache. Mit ihrer Gertrud hat man Mitleid – aber man fürchtet sie nicht.

Ein Sohn hat diesen Text geschrieben. Über seine Mutter, als Neuerfindung des eigenen Ursprungs, als Erklärung der eigenen Wut, als Rechtfertigung des Selbst? Das ist nicht mehr zu unterscheiden. Das schlechte Gewissen über die eigene Abnabelung, der Rachedurst gegen die mütterliche Vereinnahmung, die nie eingestehbare Liebe des Sohnes und nicht zuletzt die Sehnsucht nach dem Gebiet der Kindheit, das hinter einer Staatsgrenze lag, schlagen Wellen in dieser Wortflut.

„Gertrud“ gehört sicher auch zu den merkwürdigsten Romanen, die je von einem Mann über die Angst vor der weiblichen Sexualität geschrieben wurden. Alle diese Vorzeichen aber finden in Clevers Interpretation kaum Widerhall. So flackert „Gertrud. Ein Totenfest“ wie das Licht einer Kerze dort, wo man eigentlich einen Flächenbrand toben weiß. KATRIN BETTINA MÜLLER

Heute und am 1. ,11. und 23. Oktober, jeweils 20 Uhr, Berliner Ensemble, Am Bertolt-Brecht-Platz 1, Mitte

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