: Schwester Morphium
Marianne Faithfull hat ihre Memoiren geschrieben. Jagger, Dylan, Orbison: dreiste, kleine Flegel. Die Szene: versnobte junge Lords. Sie: Engel mit Titten ■ Von Anke Westphal
Wenn berühmte Menschen in der Blüte ihres Lebens eine Autobiographie schreiben, macht man sich auf das Schlimmste gefaßt. Jerry Garcia, Oberhaupt der Grateful Dead, konnte weder sein Leben noch das angekündigte neue Album und schon gar nicht das Buch seiner Erinnerungen ordentlich vollenden; seine – vierte – Ehefrau bereitet das Fragment über seine Kindheit nun für den Druck vor. Der Ex- Rolling-Stone Brian Jones malte kurz vor seinem Tod einen Friedhof an die Wand hinter seinem Bett und zierte das Werk in Höhe seines Kopfkissens mit einem persönlichen Grabkreuz. Was folgte, ist bekannt.
Hübsches aus dem inneren Popzirkel
Marianne Faithfull, ebenfalls ein „sogenannter Popstar“ (wie sie sagt), hat mit Ende vierzig ihre Autobiographie veröffentlicht. Sie ist, scheint's, nicht mehr so ängstlich wie in ihrer Jugend. Das Buch heißt divenhaft und sinnträchtig „Faithfull“ und wirkt, läßt man ein „l“ weg, auch dementsprechend auf den Leser. Doch, Faithfull sei Dank: nicht nur.
„As Tears Go By“ hieß Marianne Faithfulls großer Hit von 1964. Worte, die wie der sinngebende heilige Geist über diesem Buch schweben. Es lohnt die Lektüre weniger durch die hübschen Geschichten aus dem inneren Popzirkel der wilden sechziger, siebziger und achtziger Jahre als vielmehr durch die weise und unprätentiöse Ironie, mit der sie erzählt werden. Marianne Faithfull ist viel zu intelligent, um Dummheit nicht zu bemerken, leider auch zu sensibel, als daß sie sie ignorieren könnte, und außerdem neugierig genug, um sich nach Kräften an ihnen zu beteiligen. Und weil sie das alles ist, kann Marianne Faithfull über sich selbst genauso lachen wie über die anderen.
Der Herrgott bewahre einen vor Faithfulls breitem Schandmaul. Aber wen es ereilt, hat es wohl nicht besser verdient – wie Mick Jagger und Bob Dylan. Ist es notwendig zu wiederholen, daß sie natürlich beide – wie der ganze Rest aus den Swinging Sixties – verrückt nach Faithfull waren? Die blutjunge Marianne unterwarf potentielle Anwärter auf die sexuellen Anteile ihrer Person gern einem Standardtest: „Ich kannte Mick ja noch nicht näher, und um mir darüber Klarheit zu verschaffen, ob er in Ordnung oder einfach nur ein Idiot war, stellte ich ihm ganz viele Fragen über König Artus ..., ich muß zugeben, daß er am Ball blieb.“
Doch nicht sie, sondern Andrew Oldham, Manager der Stones, hat definiert, was für eine Rolle Marianne spielen sollte: „ein blonder Engel mit Titten“. Faithfull wurde 1965, mit neunzehn Jahren, Jaggers Geliebte. Die Geschichte über Jaggers Werben und Mariannes Test bedeutet mehr als eine lustige Episode. In Faithfulls Erinnerung waren in den Swinging Sixties Bildung und ein gewisser verächtlicher Geistesadel, kondensiert aus Dandyismus und Existentialismus, die konstituierenden Bausteine der Londoner Szene.
Die neuen Adligen: Mick, Brian, Bob
Einer der interessantesten von Faithfulls überhaupt nicht winkligen Gedankengängen: Der „dekadente“ Adel habe sich im Hofstaat des zu gesellschaftlicher Relevanz gelangten Pop fortgesetzt. Die neuen Adligen hießen Mick, Brian, Bob oder Keith. Faithfull selbst gibt das beste Paradigma dafür ab, wie Zeitgeist und Persönlichkeit einander erschaffen. „Aus vielen total verschiedenen Elementen bastelte ich mir einen Charakter zusammen.“
Faithfull entstammt mütterlicherseits der Familie von Leopold Ritter von Sacher-Masoch. Das kam in der Szene und den Medien außerordentlich gut an. Die österreichische Mutter, eine Schönheit mit Hang zu Theatralik und grandioser Verschwendung, hatte Marianne „unglücklicherweise ... wie eine Prinzessin“ erzogen, was in starkem Kontrast zur Armut der Familie stand. Man besaß nicht einmal ein Telefon.
Marianne lebte in den Siebzigern, der Zeit ihres totalen Drogenabsturzes, jahrelang von Sozialhilfe, in Kellerwohnungen, noch schlimmer – als registrierte Heroinabhängige und Pennerin auf der Straße.
Der Vater, Offizier des englischen Geheimdienstes und eine verrückte Krämerseele, hielt guten Sex für die Antwort auf alles. Der Großvater Theodore Faithfull hatte eine Art Antifrigiditätsmaschine erfunden; die Mutter gab Marianne vorsichtshalber in eine Klosterschule, wo sie Camus und Sartre, natürlich auch Huysmans, und, als sie bereits berühmt war, im Tourbus Miltons „Verlorenes Paradies“ verschlang.
Als Marianne, nach dem Erfolg von „As Tears Go By“ vor dem Abitur die Schule schmiß und nach London ging, war sie sich überaus bewußt, wann und wo sie lebte. Noch als 48jährige ist sie stolz: „Und ich war bei ihrer Erschaffung dabei!“ – und meint damit die Londoner Szene.
Das hindert sie aber nicht, die Sache als das zu sehen, was sie jenseits aller Mythen vermutlich auch war: eine Ansammlung ambitionierter, zu schnell reich gewordener, gehemmter, aber um Coolness bemühter Aufsteiger. Faithfulls „Hall Of Fame“ des Rock 'n' Roll ist eine Muppet-Show. Manchmal sogar nur eine Puppenstube. Eine erstaunliche Auffassung – immerhin war es ja die sogenannte beste Zeit von Marianne Faithfull. Sie beschert dem Leser ein Maximum an Vergnügen und vernachlässigt dabei doch nicht den Preis, den die Leute zu entrichten hatten.
„Legende“, „Engel“, dritte „Drogenikone“ neben Nico und Anita Pallenberg? Ach, nach diesem Buch kommt einem die Faithfull doch ein bißchen anders vor, nämlich eher wie die Mutti all dieser hochberühmten Grünschnäbel, die sie (in summa Rolling Stones) „dreiste, kleine Flegel“ nennt. Eine Mutti allerdings, die keine Bedenken hatte, vor den Augen der besten Freundin mit deren Liebhaber zu koitieren, nur weil man in Italien weilte und der Mond gerade so schön schien. („Kelly sprach nie wieder ein Wort mit mir.“)
Zur not hilft das Heiraten
Lustig ist, daß Brian Jones auf dem Dachboden mit seinen Modelleisenbahnen spielte und Mick Jagger – wir ahnten es! – eine tiefe Abneigung gegen Schmuddeligkeit hegte, aber auch gegen ungeheizte Zimmer. Aus naheliegenden Gründen blieb er nie länger als eine Viertelstunde in der Wohnhöhle von Brian Jones und Anita Pallenberg. Das Leben der Boheme – wir ahnten es: ein bißchen banal, ein bißchen lächerlich.
Zum Brüllen ist, wie Marianne, wenn sie sonst nicht weiter weiß, einfach heiratet. Natürlich steht sie da längst drüber; und doch gibt sie diesen Umstand wieder wie eine Empfehlung, der sie selbst, Distanz hin oder her, noch gern folgt. Auf drei Ehen hat sie es bislang gebracht – für ihren ersten Ehemann John Dunbar, ewiger Student und aufstrebender Lyriker, gab Popstar Marianne die goldene Gans ab; aus Rache verjubelte sie in kurzen Dreiviertelstunden Tausende (Pfund!) für Klamotten.
Der neue Adel hielt auf sich. Pallenberg und Jones brauchten Stunden, um sich ausgehfein zu machen. Lustig ist, wie Bob Dylan im Methedrinrausch Hof hielt. Überhaupt Dylan – der „König Bob“, „King Cool“, der superkurzsichtige Brillenhasser, „Seine Durchlauchtigste Hipheit“, auch „das Orakel“ genannt. Seine Audienzen darf man Leuten, die sich um das Vergnügen dieser Lektüre bringen wollen, unmöglich vorenthalten. „Dylan war so mysteriös, daß alles zumindest eine andere Bedeutung anzunehmen schien. Wenn er um etwas bat, womit er seinen Kaffee umrühren konnte, überlegten die Leute erst einmal. Meinte er einen Löffel?“
Faithfull liebt es, Kulte zu erden – vielleicht nimmt sie ja auf diese Art Rache für die erlittenen Demütigungen. „Wenn Worte sich reimen, bedeuten sie dasselbe“, sprach Gott Dylan. Sein böses Echo antwortete mit der Stimme Donn Pennebakers: „Das ist ja sehr interessant, Bob, aber du weißt, es ist totale Scheiße.“ Dylan hörte – wir ahnten es! – schrecklich gern Donovan, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Er warb um Faithfull, indem er ihr die ganze Nacht sein neues Album „Bringing It All Back Home“ vorspielte. Fünfzehn Jahre später, das Leben hat die beiden reichlich mitgenommen, spielt Faithfull „Gott höchstpersönlich“ eine Nacht lang „Broken English“ vor – um ihn von äußersten Avan
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Fortsetzung
cen abzuhalten. Die Konversation ist dieselbe wie 1965: „Hast du verstanden, was ich wollte? Weißt du, worüber das war?“ Faithfull hat viele schlagende Beweise dafür, daß Pop mitunter nichts als ein „kosmischer Scherz“ ist.
Leider nicht immer. Schrecklich zu lesen, wie Marianne, wenn sie morgens in der Küche ihren Sohn Nicholas windeln wollte, Berge blutiger Spritzen von Dunbars Freunden beiseite schaffen mußte.
Später, sie war längst Jaggers Freundin und selbst Fixerin geworden, schrieb sie „Sister Morphine“. Noch später, 1979, sie war wieder einmal clean, nahm sie „Broken English“ auf.
Viel später, sie war schon wieder clean, und ein Freund gab ihr die Chance, spielte sie Theater und – wie eine Art gütiger Zarin – die Hauptrolle in dem Film „When Pigs Fly“ (1993).
Sie zog nach Shell Cottage, einem Gut in der Nähe von Dublin. Dort ist zwar Van Morrison ihr Nachbar, doch immer noch reicht es manchmal nicht für die Telefonrechnungen. Anita Pallenberg, schon immer die Coolere, hat es „besser gepackt“. Pech.
Genau das ist es auch, was einen so in dieses Leben zieht. Faithfulls Sprache wechselt von Amüsiertheit (was, das war ich??!) zum Schmerz, vom weisen Alterston zu schwerster Depression – und verwirrt dabei durch die Gewißheit, daß diese so kluge, gebildete, über die Maßen schöne, mehr als zuträglich berühmte Frau immer wieder für den Absturz bereit war.
Licht- und Schattengestalt
Hat sie ihr Leben nun „bewältigt“, wie es so schön heißt? Oder ist es ihr vielmehr geschehen? Durch diese halb Licht-, halb Schattengestalt gingen alle Erfahrungen hindurch, die man damals überhaupt machen konnte – anders formuliert wär's falsch. Ja, die ganze Geschichte wäre fast so etwas wie eine Mär über die „armen Reichen“, wenn da nicht immer wieder so besonders treffende Pointen wären, die eine lustige Episode im Handumdrehen in einen Schlag ins Gesicht verwandeln.
Der große Roy Orbison, der berühmte Gene Pitney teilten Marianne während der Tourneen lapidar ihre Zimmernummern mit – gleichsam ein Befehl, denn dieses Küken, eine neue Dienstleistende im Tourneezirkus, war natürlich nicht ernsthaft würdig, von einem Star verführt zu werden. Marianne geht – nicht nur bei Orbison oder Pitney und nicht das letzte Mal – hin; schließlich hat man ihr beigebracht, folgsam zu sein.
Doch da ist, wie schon erwähnt, dieses breite Schandmaul. „,Stolz und Vorurteil‘, ist das das mit Heathcliff“, fragten die Großen, und Marianne hat es nicht vergessen. Glücklichsein, sagt Faithfull an anderer Stelle, interessiere sie nicht. Das ist vermutlich ihre einzige Lüge.
Marianne Faithfull (with David Dalton): „Faithfull“. Penguin Books, London 1995, 443 Seiten, 5,99 £
Die – recht gute – deutsche Übersetzung (von Sigrid Ruschmeier) ist im Verlag Zweitausendeins erschienen, 368 Seiten, gebunden, 38 DM
Aktuelles Album: „A Secret Life“ (Island)
Einziges Deutschlandkonzert (mit einem Brecht/Weill-Programm): 1. Dezember 1995, TrinitatisKonzerte
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