: Schwermütige Augen
■ „Der kleine Herr Friedemann“, Freitag, 20.15 Uhr, ARD
Die Vorlage schaffte 1897 auf 33 Seiten Thomas Mann: Johannes Friedemann ist klein, zart, empfindsam. Er hat einen Buckel, weil ihn die betrunkene Amme fallenließ. Er wohnt in einem schönen alten Haus in Lübeck. Seine Familie umsorgt ihn liebevoll. Friedemann verliebt sich als Gymnasiast, beobachtet die Angebetete beim Tändeln mit einem anderen und schwört der Frauenliebe für immer ab. Fortan spielt er weiter die Geige — schön und weich —, widmet sich ganz der Musik, der Literatur, dem Theater und bewundert die passive Schönheit der Natur. Friedemann ist glücklich. So lebt er 30 Jahre still und friedlich in der Wiederkehr der Tage, umsorgt von seinen drei älteren männerlosen Schwestern, freundlich geachtet von seiner Umgebung. Ein neuer Bezirkskommandant kommt mit seiner schönen jungen Frau Gerda. Bei ihrem Anblick stürzt Friedemanns Welt zusammen. Sein schiefwüchsiger Körper bebt vor Lust. Gerda von Rinnlingen, überdrüssig der eigenen Erotik, sieht in Friedemann eine verwandte Seele, einen Freund. Beider Mißverkennen führt zur Katastrophe.
Ulrich Mühe spielt in Peter Vogels Fernsehfilm den Friedemann. Seltsam, daß ihm diese Figur mehr oder weniger einseitig, ja schon tendenziös gelang: armer Behinderter, verständnislose Umwelt. Zugegeben, sein Unglücklichsein hat Schmelz, es leidet sich leicht mit diesen schwermütigen Augen. Mühes Friedemann trennt von seiner eher hausbackenen Umgebung vor allem der Buckel. Bei Thomas Mann ist das Trennende viel mehr sein Verständnis für Kunst, für Schönheit. Die lange und stille Glücksphase des Friedemann, die wollten Darsteller und Regie nicht so recht zeigen. Paßte nicht ins Konzept. Das zeigt auch der geänderte Schluß: Friedemann, dessen eruptives Liebeswerben von Gerda angeekelt abgewiesen wird, kriecht wie ein Wurm in den Fluß. Die Party-Gäste und seine Schwestern schauen zu, gehässig, böse, lüstern, ein erstarrtes Tableau mieser Bürger. Bei Thoms Mann klingt „durch die lange Allee herunter gedämpftes Lachen“.
Ärgerlich auch, daß die drei Schwestern (Christine Schorn, Jenny Gröllmann und Carmen-Maja Antoni) so sehr in die Karikatur gerieten — Mitleid verdient eben nur der Krüppel. Schade. Hier leidet der Film an seiner allzu engen Konzeption. Maria von Bismarck als Gerda von Rinnlingen wiederum zeigt eindrucksvoll das Können eines hochkarätigen Ensembles. In wenigen Szenen skizziert sie sehr sparsam Erotik und Sex, Einsamkeit und eine große unerfüllte Liebessehnsucht.
Eine penibel genaue, ästhetisch wirkungsvolle Ausstattung (Klaus Winter), eine sensible Kamera, stimmungsvolles Licht (Günther Haubold), stilistisch sicher eingestzte Musik (Bernd Wefelmayer). Ein eingespieltes Team. Der kleine Herr Friedemann war einer der letzten Fernsehfilme in Kooperation Deutscher Fernsehfunk/Defa. Renate Stinn
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