: „Schwerer Hammer“
Borussia Dortmund trauert tief und feiert nebenbei seine 77minütige Meisterschaft/ MSV steigt ab ■ Aus Duisburg B. Müllender
Als wäre es ein Omen gewesen. Schon vor dem Spiel waren sich Dortmunds und Duisburgs Fans einig. Prasselnden Beifall gab es auch von den bald 20.000 Freunden der Borussia, als der Ligalinke Ewald Lienen (38) zum Abschiedsspiel für seinen MSV, haargestutzt und mit glattrasierter Haut wie ein Öko-Pfirsich, frenetisch umjubelt in den Ruhestand verabschiedet wurde. Knapp zwei Stunden später nahm die Gemeinsamkeit ihre Fortsetzung: Beide Clubs waren in tiefer Depression inniglich vereint. Falsch gemacht hatten die Borussen nichts auf ihrer letzten Station zum Meistertitel. Früh hatten sie ihr entscheidendes Tor geschossen und danach, wie ihr kluger Trainer Ottmar Hitzfeld anmerkte, „nervenstark, routiniert und reif“ gespielt. Zweimal Pech gehabt bei eigenen Aluminium-Treffern (Helmer, Rummenigge) und tief durchgeatmet, als Duisburgs Patrick Notthoff nur den Pfosten traf. 77Minuten lang war Borussia Dortmund vorübergehender Titelträger, die schwarz-gelbe Mehrheit im Wedaustadion feierte schon und sang und jubelte, die Phonzahlen stiegen immer weiter... Und dann war es 17 Uhr 11: Die Anzeigetafel, lange Zeit eine geliebte Verbündete wie auch die unzählbaren Transistorradios im Stadion, die die Massen mit Rostocker und Leverkusener Toren elektrisierten, gab Kunde von der großen Katastrophe, vom Unfaßbaren, vom Gau schlechthin — Stuttgarts 2:1-Führung. „Ein großer, schwerer Hammer“, sei das gewesen, sagte Stahlstädter-Coach Hitzfeld nachher. Läppische 240 Sekunden fehlten, ganze vier Minuten von 3420 der gesamten Saison. So kurz vor Schluß, schlimm genug, und dann sickerten die Details durch, daß es nur noch zehn Stuttgarter waren und ausgerechnet dieser Guido-Diego Buchwald getroffen hatte, diese kantige Lachnummer mit dem Erfolgsabonnement — alle waren fassungslos. Borussia Dortmund erlitt den schlimmsten Sieg der Vereinsgeschichte. Und schubste den Gegner mit dem wertlosen Erfolg in die Zweite Liga. An der Wedau gab es nur Verlierer. Einige Minuten herrschte Ratlosigkeit, die große Depression. Dortmunds Spieler versuchten, ihre Enttäuschung in Worte zu kleiden. Sie verdrängten die Gegenwart durch Blick zurück im Zorn, insbesondere auf Schiedsrichter Harder, der sie „in Stuttgart beschissen hatte“ (Michael Schulz) oder auf den Kollegen Schwarzmann, der in Nürnberg auf die Schwalbe von Wück hereingefallen war. Aber Schwalben, so heftig in der Diskussion in den vergangenen Wochen, daß kaum noch ein Referee sich traut, Elfmeter zu pfeifen, gehören in Deutschlands Fußball konstitutiv zum Erfolg. Ohne Hölzenbeins (1974) und Völlers (1990) Schaustürze gäbe es die beiden WM-Titel wohl kaum.
Bald auch wendete sich die Dortmunder Vergangenheitsanalyse in den Blick nach vorn. BVB-Präsident Gerd Niebaum erkannte trotzig: „Moralischer Sieger sind wir.“ Punktgleich Vizemeister zu sein, sei doch ein Wechsel auf die Zukunft, meinte er, der Erfolg einer Mannschaft müsse „organisch wachsen“, ja, und als Meister „hätten wir ja gar kein neues Ziel für das nächste Jahr“. Sein trainingsleitender Angestellter Hitzfeld stellte klar, daß immerhin „unsere Fans Deutscher Meister“ seien und analysierte den VfB-Titel sehr treffend: „Stuttgart hatte zwar auf dem Papier den stärksten Gegner, aber das macht Kräfte frei, weil man die geringste Angst hat zu verlieren.“ Die Psyche ist eben alles im Fußball — was auch bei seiner Mannschaft zu beobachten war: Je länger das Spiel gedauert hatte, desto größer wurde die Unsicherheit der Borussen-Kicker, durch einen Fehler, eine einzige kleine Dummheit alles kaputt zu machen. So war wenigstens der Super-Gau ausgeblieben: Stuttgart hätte nicht gewonnen, stattdessen wäre dem sehr schwachen MSV noch irgendein nichtsnutziges, zufälliges, glückliches Ausgleichstor gelungen.
So konnten sich die Dortmunder Borussen wenigstens selbst nichts vorwerfen. Und Michael Schulz fiel der Satz des Tages ein: „Lieber mit der Borussia Deutscher Vizemeister als mit Stuttgart Deutscher Meister sein.“ Das war das Fanal für die Fußballbesessenen vom BVB09. Sie feierten die ganze Nacht, bis kein Vizemeister-Pils mehr durch die schwarz-gelben Schlünde paßte. Bernd Müllender
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