: Schweigen im Walde
■ Der Westen sagt nichts zum Tschetschenienkrieg
Hunderte Tote in Gudermes, Explosionen in Grosny und Überfälle auf Bergdörfer – mehr als ein Jahr nach dem Einmarsch russischer Truppen deutet in Tschetschenien nichts auf einen baldigen Frieden hin. Noch schlimmer, die Kämpfe in der Kaukasusrepublik weiten sich aus.
Schon jetzt hat Moskau für die nächsten Tage eine Großoffensive in Wedeno, im Südosten Tschetscheniens, angekündigt. Und niemand zweifelt daran, daß Rußland dort erneut zu einem Militärschlag ausholen wird. Mögliche neue Opfer, vor allem unter der Zivilbevölkerung, spielen für Moskau, aber auch für den Rebellenführer Dudajew und seine Gefolgsleute schon längst keine Rolle mehr. Der Kreml verkauft das Gemetzel in der Kaukasusrepublik ohnehin gern als „innertschetschenischen Konflikt“.
Die westliche Staatengemeinschaft, die nach Abschluß des Waffenstillstandsabkommens im vergangenen Sommer auf einen Frieden gehofft und sich so eleganterweise vor einer klaren Verurteilung des Krieges und ihres guten Freundes Boris Jelzin gedrückt hat, schweigt heute wieder zu alldem. Auch als spätestens nach den erzwungenen Wahlen im Dezember klar wurde, daß es Moskau nicht mehr darum geht, den Konflikt durch Verhandlungen zu beenden, und als bei den nachfolgenden Kämpfen in Gudermes Hunderte Zivilisten ums Leben kamen, wartete man aus Washington, Bonn und Paris vergeblich auf ein klares Wort des Protestes.
Dies ist angesichts des tagtäglichen Mordens in Tschetschenien nicht nur zynisch, sondern verkennt auch mögliche Konsequenzen des Konflikts für Rußlands innenpolitische Entwicklung. Mittlerweile ist nicht mehr auszuschließen, daß der Konflikt in Tschetschenien auch auf die beiden Nachbarrepubliken Dagestan und Inguschetien übergreift – eine Entwicklung, auf die Präsident Boris Jelzin mit einer Verhängung des Ausnahmezustandes und mit der Verschiebung der für den kommenden Juni anberaumten Präsidentenwahlen antworten könnte. Dadurch würde der Kremlchef auf Zeit spielen können, zumal sein Prestige durch den Krieg im Kaukasus ohnehin deutlich angekratzt ist. Außerdem gerät er durch die neue kommunistische Duma- Mehrheit zusehends unter Druck.
Die Folgen einer solchen Entwicklung wären nicht abzusehen, aber eines scheint klar: Sollte es so weit kommen, würde die Demokratie in Rußland einen empfindlichen Rückschlag erleiden. Und daran kann auch der Westen kein Interesse haben. Barbara Oertel
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