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Archiv-Artikel

Schweden wird zum Überwachungsstaat

Parlament stimmt für umstrittenes Abhörgesetz. Opposition will die neue Vorschrift im Fall eines Wahlsieges kippen

STOCKHOLM taz ■ Das schwedische Parlament hat am Mittwochabend mit 143 gegen 138 Stimmen das umstrittene Überwachungsgesetz verabschiedet. Dies ermöglicht eine umfassende Kontrolle allen IT- und Telefonverkehrs ohne jegliche Verdachtsmomente. Der Abstimmung vorausgegangen waren einige im parlamentarischen Verteidigungsausschuss formulierte Gesetzesergänzungen, die nach Meinung der Regierung zur Kontrolle der geheimdienstlichen Überwacher geeignet sind. KritikerInnen und die rot-grünen Oppositionsparteien sprechen von Augenwischerei. Auch die Jugendorganisationen aller vier konservativ-liberalen Regierungsparteien änderten ihre kritische Einschätzung nicht: Nur kosmetische Änderungen habe es gegeben, der Kern des Gesetzes sei unverändert.

Einziges Zugeständnis der Regierung: 2011 soll eine Zwischenbilanz gezogen und mögliche Gesetzesänderungen beschlossen werden. Auch diese Kontrollstation ändere am gefährlichen Potenzial des Gesetzes nichts, betont die Chefin des schwedischen Journalistenverbands Agneta Lindblom Hulthen: „Es gibt eine Grenze für das, was eine Demokratie zu ihrem Schutz machen kann, ohne selbst undemokratisch zu werden.“

Kopiert wird der gesamte E-Mail-, Chat- und Telefonverkehr ab 1. Januar 2009 über Weichen, die an allen grenzüberschreitenden Kabeln eingebaut werden. Das System, mit dem danach diese Datenflut auf zehntausende „verdächtige“ Stichworte oder Personennamen gescannt werden soll, halten viele Experten für den offiziell behaupteten Zweck der Terrorbekämpfung für wirkungslos. Der Geheimdienst werde in Material ertrinken, hätte aber kaum eine Chance wirklich sinnvolle Informationen herauszufiltern, meint Magnus Norell, Terrorexperte am schwedischen verteidigungspolitischen Forschungsinstitut FOI.

Wie lange das Gesetz überleben wird, könnte vom Ausgang der Wahlen 2010 abhängen. PolitikerInnen der Grünen und der Linkspartei kündigten an, man werde versuchen, es im Falle einer rot-grünen Mehrheit zu kippen. Dazu aber bräuchte man die Sozialdemokraten. Diese gehören jedoch traditionell ebenfalls zur „Überwachungsfraktion“.

Lässt sich die derzeitige massive Kritik aber konservieren und käme es zu einem Wahlkampf mit dem Überwachungsthema, fürchtet selbst ein regierungsfreundliches Blatt wie die Dagens Nyheter Folgen wegen der „Arroganz“, mit der die Regierung Reinfeldt das Gesetz durchgedrückt habe: „So eine Regierung braucht keine Opposition. So eine Regierung stürzt sich selbst.“ REINHARD WOLFF