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Schwarz, rot, depressiv!

Der Psychiater hat den Frisör abgelöst. Jedenfalls als Gesprächsthema bei Partys – vor allem bei Jugendlichen. Das hat unsere Autorin, gerade in den Endzügen ihrer Masterarbeit, beobachtet und sich gefragt: Warum sind eigentlich so viele junge Menschen depressiv?

von Elena Wolf

Irgendwas ist anders. Waren wir früher noch „deprimiert“, weil wir unsere Eltern wild pubertierend zu der beliebten Jugendstrafe Hausarrest getrieben hatten, sind wir es heute, wenn es mit der fünfzehnten Bewerbung immer noch nicht geklappt hat oder der Geldautomat uns mit der Frage „Wollen Sie Ihren aktuellen Kontostand sehen?“ verhöhnt. Früher haben wir Depression offenbar mit Langeweile verwechselt. Heute wissen wir nicht mal mehr, wie sich Langeweile anfühlt. Je älter man wird, desto größer werden die Sorgen – wie weiße Elefanten, die sich mitten in unser geistiges Wohnzimmer stellen und die Sicht auf alles andere blockieren. Zumindest manchmal.

Doch was tun, wenn der Elefant nicht mehr wegwill? Wenn er immer da ist und uns daran hindert, aufzustehen, um die elementarsten Alltagsaufgaben zu erledigen? Wenn er uns unendlich müde macht, ehe wir uns noch überhaupt aus dem Bett gequält haben?

Seit einiger Zeit drängt sich mir der Eindruck auf, dass die Themen „psychische Probleme“ und „Depression“ in fast jeden mir bekannten Freundeskreis Einzug gehalten haben. Laut der Diplompsychologin Petra Kucher-Sturm von der psychologischen Beratungsstelle des Studentenwerks Stuttgart sind depressive Störungen neben Lernleistungsstörungen die häufigsten Probleme, mit denen StudentInnen aus allen Semestern und Fächern ihre gemütlichen Arbeitszimmer sprengen. „Viele Studenten büffeln von morgens bis abends und verschaffen sich keine positiven Erlebnisse mehr – über Jahre hinweg. Dieser Verstärkerverlust führt irgendwann zur Depression.“

Aus dem Lateinischen abgeleitet, kommt „Depression“ von „deprimere“ und bedeutet „niederdrücken“. Neben einigen SelbstdarstellerInnen, die auf Partys das obligatorische Freigeist-Mantra „Mein Psychologe hat gesagt …“ zelebrieren, kämpfen andere mit schweren weißen Elefanten, die sich, jenseits der melancholischen Künstlerseele, Einzug in deren Alltag verschafft haben. Ein versautes Studium ist dann das kleinste Problem, neben quälenden Gedankenspiralen, die nur noch von Benzodiazepinen und Co – kurz „Benzos“ – angehalten werden können, um die zerdrückte Seele vor dem endgültigen Ausstieg aus dem Karussell zu bewahren.

Laut Statistischem Bundesamt steigen in Deutschland trotzdem rund 10.000 Menschen jährlich aus dem Karussell des Lebens, weitere 100.000 scheitern bei einem Versuch. Viele leiden dabei an psychischen Erkrankungen, meist einer Depression. Sie ist die Krankheit mit den häufigsten Selbstmordwünschen.

Selbstmordraten mit und ohne Happypillen

Während das Leiden der Seele, die Melancholie, vor vielen Jahren noch als Quelle der Kreativität und Individualität galt und als „Vergnügen, traurig zu sein“, Schriftstellern wie Victor Hugo zu kreativem Output verhalf, verspricht die große Schwester der Melancholie keine Gaudi mehr. Laut dem Arzneiverordnungsreport (AVR) – der Bibel der Gesundheitsökonomen – liegen Psychopharmaka auf Rang 3 der am häufigsten verordneten Arzneimittelgruppen in Deutschland und auf Rang 2 der Umsatzriesen neben Herz-Kreislauf-Mitteln (Stand 2011). Antidepressiva sind dabei mit großem Abstand die beliebtesten Psychopharmaka, die jährlich in 1,3 Milliarden (!) Tagesdosen die deutschen Hälse hinunterrutschen, Tendenz steigend.

Bisher kannte man die Debatten um den steigenden Konsum von Antidepressiva wie etwa Prozac vorwiegend aus Amerika, wo die Wunderdroge seit ihrer Markteinführung 1987 das Land in Befürworter und Verächter spaltete. Als sich 2004 eine alarmierend hohe Selbstmordrate unter Jugendlichen in Amerika abzeichnete und diese Rate zufällig mit rückläufigen Verschreibungen von Prozac (aufgrund des Verdachts von suizidalen Nebenwirkungen – welch Ironie) einherging, fand sich das Land der unbegrenzten Pillen-Freiheit endgültig in den „Prozac Wars“. Die Happypille geriet unter Verdacht, die jugendlichen Selbstmorde zu perpetuieren, statt depressive, suizidale „Mental Disorders“ aus dem Gehirn zu waschen.

Neben Amerika geriet auch England 2004 in den Fokus der Happypillen-Berichterstattung, als man im englischen Trinkwasser Rückstände von Prozac nachgewiesen hatte. Bei über 24 Millionen Prozac-Rezepten im Jahr haben Millionen Liter englischer Nierensaft den zweifelhaften Fröhlichmacher aus den Wasserhähnen laufen lassen. Im Fachblatt Science belegten schwedische Forscher 2013 zudem, dass bereits geringe Rückstände des Antidepressivums Oxazepam im Wasser zu gravierenden Veränderungen im Verhalten von Fischen führen. Wenn sich nun schon Fische auf bloße Rückstände von „Benzos“ weniger sozial verhalten – was machen Antidepressiva dann erst mit den Menschen?

Laut neuster Statistik der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind depressive Störungen in Amerika auf Platz zwei der Krankheiten, die den größten Anteil an gesunden Lebensjahren verzehren, direkt nach Herzanfällen und vor Gewalttätigkeiten in Beziehung und Familie. In Europa belegen sie Platz drei des Volkskrankheiten-Rankings nach Herzinfarkt und Schlaganfällen. Wenn man Amerika und Europa nun mit Ländern wie Afrika oder Südostasien vergleicht, in denen Aids und Atemwegserkrankungen die übelsten Dämonen sind, scheinen depressive Störungen massive Luxusprobleme.

Kann das sein? Suhlen sich Amerika und Europa in Verstimmungen, während anderswo auf der Welt massenhaft an Aids und Lungenentzündungen gestorben wird?

Ja und nein. Zwar stehen die Aids- und lungenentzündungsbedingten Todesfälle in keiner Relation zu den depressionsbedingten weltweit, doch die Todesfälle, die in der Statistik der „20 leading causes of death“ unter „self-harm“ verzeichnet sind, sprechen für sich. In Europa ist „self-harm“, also die absichtliche Selbstverletzung, die dreizehnthäufigste Todesursache, weit vor Verkehrsunfällen. Wenn wir uns den Kausalzusammenhang von Depression und Selbstmordrate nochmals vor Augen halten, scheinen wir es mit einem Gespenst zu tun zu haben, das jenseits von „Ich bin so deprimiert, weil's das Ringeltop nicht mehr in meiner Größe gibt“ eine unschöne Prominenz erlangt hat – Luxus hin oder her.

Was läuft da schief in Europa? Sollten wir im geilsten Land Superopas nicht morgens strahlend aus den Federn schweben und unsere dicken Bio-Eier zu Kaffee-Vollautomaten-Schokochino auslöffeln? Weshalb so deprimiert, kleiner Bausparfuchs? Du bist doch schwarz, rot, geil!

Zumindest musst du das sein, wenn du in deiner Gesellschaft etwas sein willst - und genau das ist der Grund, der zulässt, dass es sich der weiße Elefant in deiner Seele bequem macht. Für den französischen Soziologen Alain Ehrenberg ist die Ursache der Depression, die Anfang der 60er-Jahre in breite Schichten unserer Gesellschaft Einzug gehalten hatte, dem neoliberalen Diktat der Selbstverwirklichung geschuldet. In seinem 1998 erschienen Buch „Das erschöpfte Selbst“ stellt er die Hypothese auf, dass die Depression die Krankheit einer Gesellschaft ist, deren Verhaltensnorm nicht mehr auf Schuld und Disziplin gegründet ist, wie noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts, sondern auf Verantwortung und Initiative. Unsere „Kultur der Autonomie“ verlange von uns, dass wir unser Leben frei gestalten – unabhängig von sozialen Bedingungen. Ehrenberg beschreibt die Depression als „Krankheit der Freiheit“ in der kapitalistischen Gesellschaft, in der die Menschen aus Selbstverwirklichungsdruck in die „narzisstische Erschöpfung“ getrieben werden.

Macht Freiheit also krank? Wenn Freiheit in der demokratischen Gesellschaft als bedingungslose Pflicht zur Selbstbestimmung, Handlungsfähigkeit und Verantwortung sich selbst gegenüber begriffen wird, ist die Depression – das Versagen – vorprogrammiert. Das Perverse an dieser „Freiheit“ ist nämlich, dass sie aus einer in den 60er-Jahren erkämpften Emanzipation vom Gehorsam zu einer bloßen ökonomischen Größe verkehrt wurde. Die Konsequenz dieser pervertierten Freiheit war unter anderem eine soziale Entsolidarisierung – im uneingeschränkten Wettbewerb ist jeder sich selbst der Nächste.

Doch Freiheit ist immer auch eine Frage der Befähigung zur Autonomie. Die heutige Freiheit fordert einen hohen Preis, weil wir uns nie gefragt haben, was wir eigentlich mit ihr anstellen wollen. Wir wollten frei sein, jetzt sind wir es und werden depressiv, weil wir frei sein müssen. Der moderne Mensch soll um jeden Preis er selbst sein und beständig an der Großbaustelle „Ich“ arbeiten – das macht müde. Die Forderung nach Selbstoptimierung mündet so letztlich auch im Gefühl der Eigenverantwortung der Depression gegenüber, die als persönliches Versagen empfunden wird, dabei ist sie den gesellschaftlichen Verhältnissen geschuldet.

Freiheit als totale Unterwerfung

Dass wir heute relativ offen mit dem Thema Depression umgehen, ist positiv und liegt der verzögerten Einsicht zugrunde, dass sie nicht dem Versagen des Einzelnen geschuldet ist, sondern dem neoliberalen Diktat der Freiheit, man selbst zu sein. Wie ist man denn aber überhaupt man selbst? Dass wir schon andere werden, wenn wir mal nicht wissen, wie wir unsere Miete zahlen sollen, gibt zu denken.

Für Ehrenberg versprechen Prozac und Co keine Heilung von der „Krankheit der Verantwortlichkeit“. Er rät vielmehr, Versagen und Konflikte als konstruierende Teile der Persönlichkeit zu akzeptieren und aus ihnen zu lernen. Das geht jedoch nicht, wenn die ganze Welt mit Happypillen sediert wird. Wenn dieser Gesellschaft konstruierende Subjekte wegfallen, weil sie „Pillenfresser“ sind, bewegen wir uns laut Ehrenberg nicht auf eine Gesellschaft zu, die den Freiheitsbegriff neu zu definieren beginnt. Dann kaufen wir weiterhin Bücher von Tom Peters, der mit „Selbstmanagement: Machen Sie aus sich die Ich-AG“ Freiheit als totale Unterwerfung des Selbst unter ökonomische Zwänge postuliert.

Freiheit tut weh, genauso wie die Erkenntnis, dass es das Leben eben manchmal auch tut. Eine Gesellschaft, in der alle nur glücklich sind, ist laut Ehrenberg nicht möglich. Frei sein bedeutet auch scheitern, besser scheitern dürfen und dies nicht als individuelles Versagen zu begreifen.

Captain Kirk wurde in „Star Trek V – Am Rande des Universums“ von 1989 von Spocks spirituellem Halbbruder Sybok einmal dazu gedrängt, seine Gedanken mit ihm zu verschmelzen, damit er an Kirks tiefsten Schmerz gelangen und ihn davon befreien kann. Kirk hat sich jedoch entschieden dagegen verwehrt: „Ich brauche meinen Schmerz, um zu wissen, wer ich bin.“