Schwacher Jetstream: Minusgrade in „Marokko“
Die Arktis wird zu warm. Das wirkt sich global aus, wie man in dieser Woche etwa in Nordamerika und in der Barentssee beobachten konnte.

Nach Daten des Alfred-Wegener-Instituts für Polar- und Meeresforschung war der Arktische Ozean Ende dieser Woche auf gerade einmal knapp 14 Millionen Quadratkilometern zugefroren. Selbst im Jahr des bisherigen Rekordminimums 2012 waren es zum selben Zeitpunkt einige hunderttausend Quadratkilometer mehr.
Obwohl noch knapp vier Wochen Zeit sind: Überraschend käme ein neuer Minusrekord in diesem Jahr nicht. Erst in dieser Woche gab es eine neue Hitzewelle in der Arktis, mit bis zu 30 Grad über den Durchschnittswerten. „Verantwortlich ist ein stationäres Tief, das über der Barentssee festhängt“, erklärt Jens Hoffmann, Meteorologe beim Deutschen Wetterdienst (DWD).
Gleichzeitig erlebten die USA extreme Kälte, vor allem in den ganz nördlichen Bundesstaaten Montana und North Dakota, nachts an manchen Orten mit Werten von minus 45 Grad. Sogar in der südlichen Region um die texanische Großstadt Dallas fiel das Thermometer 8 Grad ins Minus. Die Stadt liegt etwa auf demselben Breitengrad wie Tunis in Nordafrika. „Wir erleben aktuell eine sogenannte ‚gestörte Zirkulation‘“, sagt Hoffmann der taz, „der Jetstream ist vollkommen zusammengebrochen.“
Jetstream braucht eine kalte Arktis und warme Tropen
Der Jetstream – zu Deutsch: „Strahlstrom“ – ist ein Höhenwind, der in zehn Kilometern über der Erde wellenartig mit teils mehr als 500 Stundenkilometern über uns hinweg pfeift. Wegen der Erdrotation ist seine Richtung stets von West nach Ost, seine Wellenbewegung bringt nach einem Tiefdruckgebiet ein Hoch und dann wieder ein Tief und so weiter.
Angetrieben wird der Jetstream wie jeder Wind durch eine Temperaturdifferenz: Sein Motor ist jene zwischen Nordpol und den Tropen. Weil es am Nordpol aber immer wärmer wird, sinkt diese Differenz – und damit die Antriebskraft des „Stahlstromes“. Wetterlagen bleiben länger stationär und sorgen so für mehr Extreme.
So wie etwa 2010, als ein Hoch den größten Teil des Julis und Augusts über Russland hängen blieb und extreme Hitze mit sich brachte, was auch tausende Waldbrände begünstigte. Weil beim Jetstream nichts mäanderte, steckte zugleich im Norden Pakistans der regenreiche Monsun fest. Fast 2.000 Menschen ertranken in den Fluten.
Wissenschaftler schreiben einem schwächelnden Jetstream die Ahrtal-Flut 2021 genauso zu wie den Trockensommer 2018 in Deutschland, die Hitzewelle 2019 mit neuen Rekordtemperaturen von erstmals über 40 Grad hierzulande oder die Waldbrandsaison 2022: Rund 3.000 Hektar standen hierzulande in Flammen, gut dreimal so viel wie in „normalen“ Jahren.
Vor der Klimakrise war der Jetstream stabil
Vor der Klimaerhitzung war der Jetstream überwiegend stabil und Entwicklungsgrundlage für den Aufstieg Europas. Heute bringt er zunehmend Wetterextreme und Chaos.
Und das wird sich verschärfen. „Die Arktis erwärmt sich zwei bis dreimal so schnell wie andere Gegenden der Erde“, sagt Stefan Rahmstorf, Ozeanograf und Forscher am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. Damit wird die Antriebskraft des Jetstreams immer geringer. Dänische Wissenschaftler messen beispielsweise seit Jahren die Wassertemperatur in der Arktis. In der nördlichen Barentssee ist diese seit 1982 bereits um 10 Grad gestiegen.
Deshalb kann dort der Ozean im Winter neuerdings auch eisfrei sein. Dadurch verdunstet dort Wasser, was hierzulande ein „Beast from the East“ zur Folge haben kann, also eiskaltes Winterwetter aus dem Osten. Im März 2018 schickte das „Biest“ historische Schneemassen nach Europa, es gab Schneeverwehungen von sieben Metern in Großbritinnen und Temperaturen bis zu minus 36 Grad.
Weitere Wetterextreme in den USA
Es ist nicht nur der Jetstream, der das Wetter extrem macht. In den USA kamen in dieser Woche zu der extremen Kälte noch schwere Unwetter hinzu, mindestens neun Menschen wurden getötet.
„Anders als in Europa verhindern in den USA keine ostwestausgerichteten Gebirge wie die Alpen den Fluss der Kaltluft nach Süden“, erklärt Thore Hansen, ebenfalls Meteorologe beim Deutschen Wetterdienst. „Zudem erwärmt in Europa das Mittelmeer Luftmassen auf ihrem Weg nach Süden deutlich.“
Man könnte sagen: Europa hat beim Klimawandel ein paar geografische Vorteile gegenüber den Vereinigten Staaten. „Auf ihrem Weg nach Süden verliert die Luftmasse in den USA zwar einen Teil ihrer arktischen Eigenschaften“, so Hansen. Dennoch reichte es selbst an der Golfküste noch für Frost. Meteorologe Hansen zieht folgenden Vergleich: „New Orleans liegt auf etwa 30 Grad nördlicher Breite, das entspricht dem Süden Marokkos auf ‚unserer‘ Seite des Atlantiks.“
Ein wesentlicher Treiber des künftigen Wetter-Durcheinanders ist der Albedo-Effekt – die Rückkopplung der arktischen Meereisbedeckung. Sehr helles Eis weist einen Albedo-Wert von 0,8 auf. Das bedeutet: 80 Prozent jener Strahlungsenergie, die von der Sonne geschickt die Arktis erreicht, wird ins Weltall zurückgestrahlt. Ist dieses Eis aber nicht mehr da, gilt der Albedo-Wert von Wasser: 0,1. Das bedeutet, 90 Prozent der Sonnenenergie gehen in den arktischen Ozean und heizen diesen weiter auf.
„Wie Spiegel haben Eisflächen einen höheren Rückstrahleffekt als die dunklere Wasseroberfläche“, erklärt Christian Haas, Professor am Institut für Umweltphysik an der Universität Bremen.
Je kleiner die arktische Meereisbedeckung ist, desto kleiner wird dieser Spiegel, desto mehr Sonnenenergie kann in den arktischen Ozean eindringen, der dadurch immer wärmer wird und weiteres Eis schmelzen lässt – was die Spiegelfläche weiter auftaut. Ein Teufelskreis: Die Antriebskraft des Jetstreams verliert immer mehr an Kraft, die Extreme werden steigen.
Am Wochenende kommt der „Stahlstrom“ übrigens wieder in Tritt. Nach zuletzt Tiefsttemperaturen von bis zu 15 Grad minus in Teilen Deutschlands, steigen die Temperaturen nach Ermittlung des DWD auf plus 15. 30 Grad Differenz zwischen wenigen Tagen – die Extreme werden zunehmend das neue „Normal“.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!