Schwabenstreiche in Berlin I.: Künast gibt sich kämpferisch
Auf einer Mitgliederversammlung der Grünen im Tempodrom wird Renate Künast mit mehr als 90 Prozent nun auch formal zur Spitzenkandidatin gewählt. Winfried Kretschmann grüßt per Videobotschaft.
Licht aus, Clip ab: Der Mann, der im abgedunkelten Tempodrom guruhaft auf über 800 Berliner Parteifreunde herab schaut, ist der designierte grüne baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Der fordert Renate Künast per Videobotschaft auf, es ihm gleich zu tun und die Abgeordnetenhauswahl zu gewinnen. "Was der Winfried vergessen hat", sagt Künast wenig später, "wir in Berlin sind die größte schwäbische Stadt außerhalb von Baden-Württemberg - mit all den Schwaben werden wir es schon schaffen."
Ging es beim Parteitag vor fünf Wochen ums Wahlprogramm und den Landesvorstand, geht es jetzt um die künftigen Abgeordneten. Dreimal hat Künast seit ihrem coming out als Kandidatin fürs Rote Rathaus vor hiesigen Grünen-Parteitagen gesprochen. Dreimal war der Eindruck: eher mau. Dieses Mal ist das anders. Künast verstrickt sich kaum im Klein-Klein, hat eine klare Botschaft: "In diesem Wahlkampf wird es nicht mehr Bussi-Bussi geben." Sie nennt keinen Namen, aber es ist der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit, der gern so tut gern, als wären er und seine Herausforderin die besten Freunde. Künast hat das Verhältnis der beiden mal dezent damit beschrieben, man unterhalte "mittelenglische Umgangsformen".
"Jetzt fängt für uns der Wahlkampf richtig an", ruft sie ihrer Basis zu. Dieses "jetzt" ist offenbar die zweite Chance, die Künast bekommen hat. Erstmals seit Monaten stehen die Grünen in Umfragen wieder vor der SPD. Das war im Herbst über Wochen so - bis Künast ihre Kandidatur bekannt gab und unter anderem nahelegte, man könne aus dem BBI auch einen Regionalflughafen machen. Da sanken die Grünen-Werte kontinuierlich von 30 auf 22 Prozent.
Künast tut nicht so, als sei der erneute Anstieg allein ihr Verdienst: "Wir Grüne schämen uns nicht dafür, dass die Leute uns wegen Fukushima mehr vertrauen." Visionen und Alltagsproblemen will sie sich gleichermaßen widmen, zitiert dazu den Schriftsteller Wilhelm Raabe: "Schau nach den Sternen, aber achte auf die Gassen." Weniger textsicher ist Künast später, als sie Fraktionschefin Ramona Pop auf die Bühne ruft. "Ramona, Ramona" stimmt sie einen Schlager an und fordert auf einzustimmen - vergeblich. Was womöglich daran liegt, dass Künast "Ramona" von den Blue Diamonds mit "Marina" von Rocco Granata verwechselt und auf die falsche Melodie singt.
Dass Pop und ihr Co-Fraktionschef Volker Ratzmann etwas später nicht so belustigt dreinschauen, hat aber andere Gründe: Nur jeweils zwei Drittel des Parteitags unterstützen ihre Kandidatur für die Landesliste. Das ist enttäuschend für zwei zentrale Stützen von Künast, die selbst mit 91,3 Prozent auf Platz eins gewählt wird. Entsprechend sauer ist das Realo-Lager. "Unsere linken Freunde haben eine Macke", grummelt der Finanzpolitiker Jochen Esser. "Das ist einfach nicht anständig", ärgert sich auch Norbert Schellberg, Kreischef in Steglitz-Zehlendorf. Immerhin hätten die Realos vor fünf Wochen den Linken Daniel Wesener zum Landeschef gewählt. Wesener selbst sieht das ganz anders: 66 Prozent, das sei für die Fraktionschefs doch ein ordentliches Ergebnis.
Dieser plötzliche Zwist passt so gar nicht mehr zum angestrebten einheitlichen und positiven Erscheinungsbild. Dafür wirbt auch eine Firma, die im Foyer des Tempodroms innovative Zahnpflege anbietet. Ihr Slogan: "Lächeln für Renate".
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