Schura-Vorstand in Niedersachsen: Muslime verstören durch Demokratie
Dass die Schura-Vollversammlung einen neuen Vorstandsvorsitzenden gewählt hat, bringt Niedersachsens Landesregierung aus dem Konzept
Tatsächlich liegt der Vertragsentwurf seit Februar unterschriftsreif vor, der wissenschaftliche Dienst des Landtags hat ihn bereits gecheckt: Was die Personalie daran ändern könnte, beantwortet die Regierung nicht. Das „Innehalten“ bedeute aber nicht, dass man vom Ziel abrücke.
Am Samstag war bei der Vollversammlung des „Landesverbands der Muslime in Niedersachsen“ – unter dieser Bezeichnung firmiert die Schura im Vereinsregister – nicht der langjährige Vorsitzende Avni Altiner in seinem Amt bestätigt worden. Stattdessen war bei der turnusgemäßen Wahl sein Herausforderer, der 45-jährige Ingenieur Recep Bilgen gewählt worden. Bilgen ist seit 2014 Geschäftsführer der Schura, also kein unbeschriebenes Blatt. Während Altiner aber Vertreter einer unabhängigen Einzel-Moschee ist, vertritt Bilgen die Islamische Gemeinschaft Millî Görüş (IGMG) in der Schura.
Diese gilt als größte staatsunabhängige islamische Religionsgemeinschaft in Deutschland. Gleichwohl unterhält sie intensive Verbindungen zur türkischen Regierungspartei AKP. Die Beobachtung durch den Verfassungsschutz wurde in Niedersachsen 2014 eingestellt. Zugleich stehen IGMG-Vertreter an der Spitze sämtlicher Schuren in Deutschland, auch der in Hamburg, das bereits 2014 einen Staatsvertrag mit der Schura, der türkischen Religionsbehörde Ditib und der alevitischen Gemeinde geschlossen hat. Dieser Vertrag, den auch Bremen weitgehend übernommen hat, dient als Modell für den niedersächsischen Entwurf.
Dass Altiner nach zehnjähriger Amtszeit nicht erneut wiedergewählt wurde, kam für Insider nicht überraschend: „Einerseits ist er natürlich sehr respektiert, weil er das seit zehn Jahren macht“, hieß es, „die Kehrseite ist aber: Seit vollen zehn Jahren macht das immer er“. Zudem verfügt er eben über keine Hausmacht: Schon in der Aussprache bei der Vollversammlung sei Unbehagen an seiner Amtsführung artikuliert worden.
Altiner habe daraufhin angeboten, nur noch bis zur Vertragsunterzeichnung im Amt zu bleiben – und dann seinen Rücktritt zu erklären. Darauf hatte sich die Versammlung indes nicht einlassen wollen. Zwar hatte Bilgen seine Kampfkandidatur gegen Altiner nicht im Vorfeld angemeldet. „Anzeichen dafür, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zugegangen ist, habe ich keine bemerkt“, sagte der Landtagsabgeordnete Belit Onay (Grüne) der taz.
Der Integrationspolitiker hatte bei der Vollversammlung ein Grußwort vorgetragen, wie auch die Kultusministerin Frauke Heiligenstadt (SPD). Das Ergebnis einer Vorstandswahl „muss ich so hinnehmen“, sagte Onay. Natürlich müsse man sich an neue Verhandlungspartner erst gewöhnen. Aber „grundsätzlich in Frage gestellt“ werde dadurch der Vertrag nicht.
Die CDU sieht sich freilich in ihrer Ablehnung des Vertrags bestätigt: „Der plötzliche Rückzieher zeigt deutlich, dass diese Landesregierung mit den Verhandlungen überfordert ist“, ätzte der Fraktionsvorsitzende Björn Thümler. Er sei „gespannt, wie sich der Ministerpräsident den weiteren Dialog mit den Muslimen unter diesen Voraussetzungen vorstellt“.
Heute will Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) die Chefs der Landtagsfraktionen darüber informieren. Vorher wird es auch seitens von Ditib, dem zweiten an den Verhandlungen beteiligten muslimischen Dachverband, keine Stellungnahme geben. Weder Altiner noch Bilgen waren gestern zu einer Stellungnahme bereit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann