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Schulsenatorin Goetsch zum Volksentscheid"Leistungsstarke leiden nicht"

Hamburgs Schulsenatorin Christa Goetsch äußert sich zu der Bemerkung von Pisa-Forscher Baumert, die Primarschule-Debatte sei ein "unnötiger Streit". Es gehe um Gerechtigkeit.

Der Streit um die sechsjährige Grundschule wird mit harten Bandagen geführt: Befürworter überklebten Plakate der FDP. Bild: FDP Hamburg
Kaija Kutter
Interview von Kaija Kutter

taz: Frau Goetsch, Hamburg belegt beim nationalen Bildungsvergleich mit Ausnahme des Fachs Englisch wieder hintere Plätze. Was machen wir falsch?

Christa Goetsch: Wir haben wie alle Großstädte eine ganz andere Integrationsleistung zu meistern wegen der großen sozialen Unterschiede und auch, weil viele Kinder aus Einwandererfamilien im Deutschen erst aufholen müssen. Das ist einer der zentralen Gründe für die Schulreform.

Macht ein Vergleich von Flächenstaaten und Metropolen wie Hamburg und Berlin überhaupt Sinn?

Sicher nur eingeschränkt. Aber man kann doch erkennen, wo schon Erfolge zu sehen sind - wie bei den Englischkenntnissen, und wo wir noch ordentlich nachlegen müssen.

Noch gut drei Wochen bis zum Volksentscheid. Wie schätzen Sie die Stimmung ein?

Das ist sicher von Stadtteil zu Stadtteil unterschiedlich. Wir haben gerade bei Großveranstaltungen wie der Altonale sehr viele positive Rückmeldungen. Und nun hat sich auch noch das akademische Personal der Universität für die Reform ausgesprochen. Das freut einen natürlich.

Vorige Woche sagte Pisa-Forscher Jürgen Baumert im Spiegel, einen Beweis für die Wirksamkeit der sechsjährigen Grundschule gebe es nicht.

Herr Baumert sagte gleichzeitig, dass es zur Primarschule auch gar keine empirische Evidenz geben kann, weil man dafür beide Systeme parallel laufen lassen und die Kinder per Zufall verteilen müsste.

Christa Goetsch, 57

ist Schulsenatorin und Zweite Bürgermeisterin. Bis 2002 lehrte sie Naturwissenschaften an einer Altonaer Schule.

Aber er nennt den Konflikt um die Primarschule einen "völlig unnötigen Streit". Das Zwei-Säulen-Modell sei Reform genug.

Das überraschend mich, weil Herr Baumert in einer Re-Analyse der Berliner Element-Studie selbst gezeigt hat, dass längeres gemeinsames Lernen den Kindern insgesamt zugute kommt und die Leistungsstarken nicht schwächt.

Sie sprechen von der Studie des Bildungsforschers Reiner Lehmann über die sechsjährige Berliner Grundschule.

Ja. Darin wurden die Schüler der sechsjährigen Grundschule mit jenen sieben Prozent verglichen, die schon ab Klasse 5 aufs Gymnasium wechseln. Lehmann schloss daraus, das Gymnasium fördere besser und warnte, in der Grundschule würden leistungsstarke Schüler gebremst. Dieser Vergleich war nicht seriös. Baumert hat dann statistisch gleiche Schüler-Pärchen verglichen und herausgefunden, dass die leistungsstarken Schüler an den Grundschulen am Ende der sechsten Klasse genauso weit sind wie die Leistungsstarken am Gymnasium. In Mathematik waren sie sogar etwas besser. Man sieht, die Leistungsstarken leiden nicht.

Die Berliner Studie zeigt auch, dass die Schwachen sehr gut gefördert wurden. Es gab kaum Sechstklässler, die schlecht lasen. Reicht das nicht schon?

Aus meiner Sicht ja. Es ist die Gerechtigkeitsfrage, die dafür spricht, dass man länger gemeinsam lernt. Aber wir wollen allen Kindern gerecht werden, auch den Leistungsstarken. Das ist ein wichtiger Teil unseres Konzepts.

Ihnen widerspricht auch Professor Kurt Heller aus München. Auf einer Veranstaltung der Reformgegner in der Bucerius Law School sagte er, die Behauptung, dass in heterogenen Gruppen die Förderung aller möglich sei, sei wissenschaftlich widerlegt.

Das ist Quatsch. Es funktioniert an den Reformschulen in dieser Stadt. Es funktioniert aber auch an sehr vielen Orten in der Welt. Nehmen Sie Toronto in Kanada, eine große Einwanderungsstadt, die mit Hamburg vergleichbar ist. Dort wird langes gemeinsames Lernen mit moderner Pädagogik kombiniert - mit sehr guten Ergebnissen.

Wie kontrollieren Sie, dass sich die Primarschule in der Praxis bewährt?

Wir haben dafür sehr viele Instrumente. Es gibt eine europaweit ausgeschriebene wissenschaftliche Begleitung, den Sonderausschuss der Bürgerschaft, eine verstärkte Schulinspektion und regelmäßige Erhebungen. Hat eine Schule schlechte Ergebnisse, wird sie von der Behörde unterstützt und betreut.

Ein Argument der Reformgegner ist, in gemischten Gruppen würden die lernschwächeren Kinder leiden.

Es ist genau umgekehrt. Wenn wir lernschwache Kinder unter sich halten, entstehen nicht förderliche Lern-Milieus.

Heller sagt, er könne sich auch vier oder sechs Schulformen vorstellen. Man müsse heute mehr differenzieren als früher, weil die Gesellschaft eine ganz andere sei als vor 40 Jahren. Eine isolierte Position?

Als im Frühjahr die Universität Hamburg eine große Fachtagung zu diesem Thema organisierte, war es schwer, einen Wissenschaftler zu finden, der gegen das längere gemeinsame Lernen war.

Ein Kritikpunkt sind die Kosten. Für kleine Klassen benötigen Sie mehr Räume, das geht richtig ins Geld. Bleibt es dabei, trotz Haushaltskrise.

Ja. Der Haushaltsausschuss hat das bereits einstimmig beschlossen und wir haben eine Koalition, die den Schwerpunkt Bildung ernst nimmt.

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8 Kommentare

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  • M
    mal

    Mich stößt vor allem due Unehrlichkeit der Befürworter für das längere gemeinsame Lernen ab. Allein die Tatsache,das die Broschüre, die mit dem Abstimmungsschein so aufgemacht war, das es schien,als würde nicht nur für das längere Lernen, sondern auch für Punkte wie kleinere Klassen etc. abgestimmt, hat dazu geführt, das ich meine Entscheidung für die Gegenseite getroffen hat.

    Es geht nicht um "Gerechtigkeit", im Gegenteil. Es geht darum, mal wieder im Sinne irgendeiner verquasten Ideologie vermeintlich "Benachteiligten" auf Kosten aller Anderen zu "helfen".

  • W
    WoB

    Der letzte Satz in der von Frau Goetsch geäußerten Passage

     

    "Baumert hat dann statistisch gleiche Schüler-Pärchen verglichen und herausgefunden, dass die leistungsstarken Schüler an den Grundschulen am Ende der sechsten Klasse genauso weit sind wie die Leistungsstarken am Gymnasium. In Mathematik waren sie sogar etwas besser."

     

    ist eine weitere Fehlinterpretation der Baumert-Studie. Dort heißt es nämlich am Ende von Abschnitt 6.3 (S. 209):

     

    "Die Ergebnisse zur Förderwirkung grundständiger Gymnasien fallen für die Mathematikleistungen

    positiv aus. Frühübergänger an grundständige Gymnasien erreichen am Ende der 6. Jahrgangsstufe im Mittel statistisch signifikant bessere Mathematikleistungen."

     

    Ist hier der Wunsch der Vater des Gedanken, oder mangelt es an Leseverständnis?

  • W
    WoB

    Frau Goetsch entgegnet Pisa-Forscher Jürgen Baumert, der den Konflikt um die Primarschule einen "völlig unnötigen Streit" nennt:

     

    "Das überraschend mich, weil Herr Baumert in einer Re-Analyse der Berliner Element-Studie selbst gezeigt hat, dass längeres gemeinsames Lernen den Kindern insgesamt zugute kommt und die Leistungsstarken nicht schwächt."

     

    Hier fehlt Frau Goetsch die Detailkenntnis der Ergebnisse der Re-Analyse: Baumert zeigt nämlich nur, dass einige der in der ursprünglichen Analyse festgestellten Unterschiede nach Korrektur für sozio-demographische Faktoren nicht mehr signifikant sind. Daraus kann aber keine der beiden Behauptungen von Frau Goetsch geschlossen werden. Die ursprünglich festgestellten Unterschiede sind immer noch vorhanden - einige sogar signifikant. Insofern ist die Behauptung von Baumert, der oft als Kronzeuge für die Reform herangezogen wird, überhaupt nicht überraschend - ihm ist voll zuzustimmen. Schade nur, dass er sich so lange zurückgehalten und damit zugelassen hat, dass seine Ergebnisse immer wieder so verfälscht interpretiert und instrumentalisiert wurden und immer noch werden.

  • H
    HamburgerX

    @nebenbeibemerkt: Wenn jetzt schon die NPD herhalten muss, um indirekt für die Schulreform zu werben, dann haben die Reformbefürworter wohl keine guten Argumente mehr. Die NPD ist auch gegen den Afghanistan-Einsatz und gegen Kinderarmut - soll das jetzt heißen, dass man als Demokrat solche Ziele nicht mehr teilen darf?

     

    Also Ihr Nr. 2 war wirklich ein Eigentor. Sie wissen selbst, dass es immer auch Zustimmung von der falschen Seite gibt.

     

    In 1. Die OECD ist nicht die Regierung, sondern verfolgt auch Eigeninteressen (Vereinheitlichungen, Freihandel). Sie gehen zudem mit keinen Wort auf die Zuwanderungsbedingungen ein. Und den starken Einfluss der Bildungstradition von Familien. Das System (Mehrgliedrigkeit) an sich hat kaum Einfluss. Zitat

    -----

    Ein Pädagogikprofessor hat die Lebenswege hessischer Schüler über Jahrzehnte verfolgt. Sein ernüchterndes Fazit: Die soziale Herkunft ist entscheidender als die Schulform. [...]

    Viel wichtiger für den Bildungserfolg ist demnach das Elternhaus - vor allem, wenn es um "Entscheidungen mit Risikocharakter" geht, also etwa zum Schulabschluss, zur Ausbildung oder Berufslaufbahn. Dann tritt die Schulform in den Hintergrund [...] -----

     

    Das war Fend, und der war alles andere als ein Gegner solcher Reformsystem gewensen.

     

    http://www.spiegel.de/schulspiegel/wissen/0,1518,526424,00.html

  • R
    Rejmanowski

    Goetsch: "Toronto in Kanada, eine große Einwanderungsstadt, die mit Hamburg vergleichbar ist."

    Wenn das mal so waere.

    Gerade die Gruenen kaempfen seit Jahrzehnten fuer einen moeglichst breiten Zuzug von Unqualifizierten in deutsche Sozialsysteme - auch mit Auswirkungen auf die Schulwelt. Wuerde man die Einwanderungsgesetze von Kanada 1:1 in das deutsche Gesetzbuch uebernehmen (was die GAL niemals mitmachen wuerde), erst dann waere Hamburg mit Toronto vergleichbar. Momentan kann - zu einem wesentlichen Teil dank rotgruener Politik der Vergangenheit - eine Braut ohne jeden Schulabschluss und seit Einfuehrung des neuen Zuwanderungsgesetzes lediglich mit der Kenntnis von 300 deutschen Woertern nach Hamburg ziehen. Ein Einwanderer nach Kanada hat dagegen keinerlei Chancen, wenn er nicht mindestens den Realschulabschluss als Deutscher - oder eine vergleichbare Schulbildung bei anderen Nationalitaeten - vorweisen kann und zusaetzlich noch eine Berufsqualifizierung, welche gerade zur Zeit in Kanada gefragt ist.

  • N
    nebenbeibemerkt

    1. Es machen in Deutschland zu wenig Kinder aus bildungsfernen Familien Abitur – das ist seit langem bekannt. Die OECD hat Deutschland schon mehrmals wegen der Bildungsungerechtigkeit ermahnt. Statistiken belegen das einwandfrei – siehe die Ergebnisse vom Donnerstag.

    2. Die NPD ist gegen die Schulreform.

    Wer möchte als Demokrat die gleichen Ziele wie die NPD vertreten?

  • H
    HamburgerX

    Es gibt mehrere Studien, die den idealen Zeitpunkt für eine Differenzierung nach Lernvermögen ab der 5. Klasse sehen. Es gibt keine Studie, wie Frau Goetsch selbst zugibt, die beweist (oder beweisen kann), dass eine sechsjährige Grundschulzeit Vorteile bringt. Auch bzgl. der Chancengerechtigkeit nicht. Die Ergebnisse in Brandenburg haben sich sogar mit der Einführung der sechsjährigen Grundschulzeit leicht verschlechtert.

     

    Es werden also hunderte Millionen für Schulumbauten ausgegeben, die eigentlich überflüssig sind. Selbst der "PISA-Papst" Baumert sagt, dass es andere Probleme gäbe und dass man die humanistischen Gymnasien nicht beschädigen sollte.

     

    Wie soll es auch funktionieren, wenn ein Sechstklässler binomische Formeln anwenden will, während sein Nachbar noch über ein 4*4 grübeln muss?

     

    Kann mir das jemand erklären? Das kann nicht funktionieren. Der eine fühlt sich dumm, der andere unterfordert, der eine fängt aus Frust an, andere zu hänseln, der andere wird als Streber ein Außenseiter. Oder jeweils cliquenweise. Übrigens funktioniet das so auch in Finnland nicht, wo begabte Schüler nämlich extra unterrichtet werden und wo es viele Privatschulen und wenig Migranten gibt. Und wo die Lehrerausbildung erheblich besser ist.

     

    Auch die Chancengerechtigkeit ändert sich nicht durch längere Grundschulzeiten. Die primäre Selektion erfolgt nämlich in der 1. Klasse. Dem schlauen Achmet in Willhelmsburg bringt es nichts, statt 4 Jahre jetzt 6 Jahre mit seinen Nachbarn zu verbringen. (Und wenn der Lehrer falsche Empfehlungen ausgibt, wird der das auch in Klasse 6 tun.) Dafür hätte Achmet auf einem Gymnasium ab Klasse 5 wenigstens früh die optimale Förderung. Und dann kann er später auch mit dem schlauen Sebastian aus Nienstedten mithalten, wenn andere sinnvolle Schritte wie Sprachförderung, Lehrerausbildung und Verbesserung der Empfehlungsqualitäten hinzukommen.

     

    Da sollte auch eher das Geld hinfließen als in nutzlose Schulumbauten.

  • K
    Klap

    Nur eine kurze Anmerkung zu der genannten Unterstützung des akademischen Personals für die Schulreform. Folgende Meldung wurde hierzu in verschiedenen Medien verbreitet:

     

    "Zahlreiche wissenschaftliche Mitarbeiter der Universität Hamburg haben

    sich für die umstrittene Schulreform ausgesprochen. Eine am Montag

    veröffentlichte Unterschriftenliste wurde von mehr als 100 Mitarbeitern

    ...der Hochschule unterzeichnet. "

     

    Amerkung:

    Das wissenschaftliche Personal der Uni Hamburg beträgt ca 4000 Mitarbeiter ("http://www.verwaltung.uni-hamburg.de/pr/1/11/stellen.html")

     

    Das macht bei 100 Unterschriften eine Zustimmung des wissenschaftlichen Personals von

    2,5 Prozent der "Unterschriftberechtigten".

     

    Daraus eine Unterstützung der Schulreform durch DAS akademische Personal abzuleiten halte ich dann doch für etwas gewagt.