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Schulreform in BerlinHauptstadt ohne Hauptschulen

In Berlin verabschiedet das Landesparlament eine Schulreform. Künftig wird es nur noch zwei Oberschulformen geben. Ein umstrittenes Projekt.

Die Änderung der Berliner Schulstruktur Bild: Infotext

BERLIN taz | Hauptschulen, ade: In Berlin sollen Grundschulabgänger künftig nur noch zwischen zwei Oberschularten wählen können. Das Landesparlament verabschiedete am Donnerstag mit den Stimmen der rot-roten Mehrheit eine entsprechende Schulgesetznovelle.

Damit wird eine Reform besiegelt, deren Umsetzung zum Ärger ihrer Gegner längst begonnen hat. Mit Geldern aus dem Konjunkturpaket II des Bundes finanziert Berlin bereits seit Mitte vergangenen Jahres den Umbau der Schulen. Gesamt-, Real- und Hauptschulen werden zu den neuen Sekundarschulen zusammengeschlossen, die schon im kommenden Schuljahr im Sommer an den Start gehen sollen. An vielen Standorten ist für den obligaten Ganztagsbetrieb der neuen Schulform der Einbau etwa von Mensen notwendig.

Mit der Reform will Berlin den Misserfolgen des mehrgliedrigen Schulsystems ein Ende setzen. Die zeigten sich nicht nur bei Bildungsvergleichsstudien wie Pisa, wo die HauptstadtschülerInnen regelmäßig katastrophal schlecht abschnitten. Auch Desaster wie das bundesweites Aufsehen erregende Kapitulationsschreiben der Rütli-Hauptschule 2006 erleichterten den Abschied von der selektiven Schulstruktur.

Soziale Ausdifferenzierung sei "eines der größten Probleme des derzeitigen Schulsystems", sagt Steffen Zillich, schulpolitischer Fraktionssprecher der Linkspartei, die die Reform maßgeblich vorantrieb. Sie werde "mehr soziale Gerechtigkeit" schaffen, hofft Zillich.

Dafür soll die Sekundarschule SchülerInnen verschiedener Leistungsniveaus gemeinsam unterrichten. Anders als das Gymnasium mit dem Abitur nach 12 – im Schnelldurchgang nur 11 – Jahren bietet sie das Abi auch nach 13 Jahren an. Alle anderen Schulabschlüsse bleiben erhalten – selbst der Hauptschulabschluss, der nun "Berufsbildungsreife" heißt.

Der gemischten Schülerschaft bietet die neue Schulform Klassen von höchstens 25 SchülerInnen, individuelle Förderung und zwei Stunden weniger Wochenunterricht als am Gymnasium. Beim "dualen Lernen" sollen in Kooperation mit Betrieben und Unternehmen den SekundarschülerInnen praktische Erfahrungen in der Arbeitswelt ermöglicht werden. Sowohl IHK als auch Handwerkskammer hätten schon Interesse signalisiert, sagt Jens Stiller, Sprecher der Berliner Senatsbildungsverwaltung.

Doch nicht alle sind mit der Schulreform glücklich: Sie werde den Schulen aufgezwungen, sagt Mieke Senftleben, bildungspolitische Sprecherin der FDP im Abgeordnetenhaus. Die CDU brachte gar einen Gegenentwurf ein, der mehr statt weniger Selektion vorsah: so die Wiedereinführung spezieller Klassen für SchülerInnen nichtdeutscher Herkunft.

Auch die Grünen sind gegen die Reform, die das Gymnasium zu wenig einbeziehe. Dort wurden nur die Zugangsbedingungen etwas geändert: Stark nachgefragte Gymnasien, die mehr BewerberInnen als Plätze haben, sollen künftig 30 Prozent ihrer Plätze verlosen. So soll auch an den Gymnasien eine gemischtere Schülerschaft entstehen. Für einen Stopp der Reform reichten aber die Stimmen der Opposition nicht aus.

Die Entscheidung über Erfolg oder Scheitern der Schulstrukturreform liegt nun bei den Eltern. Sie können wie bisher bei einer unverbindlichen Empfehlung der Grundschule die Oberschulform für ihr Kind frei wählen. Die Verunsicherung in der Elternschaft sei groß, sagt Inge Hirschmann, Vorsitzende des Berliner Grundschulverbands und Leiterin einer Kreuzberger Grundschule.

Zwar betrachteten viele die Reform als "politisch richtigen Schritt", doch noch fehle es an Vertrauen in die neu entstehende Schulform, für deren konkrete Ausgestaltung es an vielen künftigen Standorten noch an Konzepten fehle. Hirschmann rechnet deshalb zunächst mit einem "Run auf die Gymnasien: Denn dort ändert sich am wenigsten."

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10 Kommentare

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  • T
    Treichl

    Ich bin beeindruckt, dass die rot-rote Regierung das so durchzieht. Mir fehlen aktuell die Detailinfos, deswegen kann ich es nicht bedingt beurteilen, wie die reibungslos die Umsetzung der Maßnahme funktioniert.

    Aber letztlich - dazu muss man sich nur die demografische Entwicklung der Schülerzahlen ansehen - werden wir in 10 Jahren in allen Bundesländern (vor allem den Flächenländern) ein im wesentlichen zweiteiliges Schulsystem haben. Denn jedes Jahr werden wir 4-7% weniger Schüler haben. Da ist es nur eine Frage der Zeit bis Real- und Hauptschulen zusammengelegt werden (müssen). Ganz zu schweigen von dem desaströsen Image von Hauptschulen in Deutschland.

  • V
    Viktor

    Ich finde es erschreckend, wie viele Leute so negativ von Hautschulen reden.

    Da ich selber in der 10. Klasse, einer Hauptschule, in Bayern bin. Dort gibt es nämlich den M-Zug, eine Chance ab der 7. Klasse, den mittleren Bildungsabschluss zu erlangen.

    Ich selbst finde es nicht gut, als "Hauptschüler" gemustert zu werden. Dieses Problem könnte, durch ein einheitliches Gesamtschulensystem in Deutschland, behoben werden.

    Bei uns auf der "Hauptschule" gibt es übrigens keinerlei Gewalt. Das Schulklima ist sehr gut.

    Eine Gesamtschule würde auch Schüler mehr motivieren etwas zu tuen, da sie den Leistungsdruck von anderen Schülern mitbekommen und sich deswegen aufraffen wollen.

     

    Mit freundlichen Grüßen,

     

    Viktor (der M-Zügler)

  • MI
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    @ Tobias L

     

    Die Probleme, die an Hauptschulen herrschen, werden ja nicht einmal jetzt angegangen.

     

    Und ja: Natürlich muss dort etwas passieren. Aber das ist doch kein Grund, eine Schulreform hin zu einem besseren Schulsystem zu kippen, sondern eher ein Hinweis darauf, dass, jetzt mehr denn je, endlich mehr Lehrer und Sozialarbeiter an den Schulen angestellt werden.

  • TL
    Tobias L

    Mir stellt sich lediglich die Frage, ob das insgesamt sinn macht...und ich spreche jetzt mal von dem Verhalten vieler Hauptschüler.

    Wenn die Hauptschule wegfällt und die, die eigentlich auf eine Hauptschule kommen sollten, dann auf eine Realschule kommen, wird dann evtl nicht das Verhalten auf die Realschulen übertragen? ich meine, ist das wirklich die Lösung, wenn man hauptschulen abschafft oder wirft man dadurch einfach ein Tuch über das Problem.

  • MC
    Marie Caroulette

    Auch in Baden-Württemberg ist eine Reform , die den Namen auch verdient längst überfällig. Das einzige was Hernn Rau einfällt ist , die Hauptschulen in Werkrealschulen umzubenennen. Alter Inhalt in maroden neuen Schläuchen.

    Hoffentlich klappts auch wirklich - das wäre ein Signal für alle anderen Bundesländer.

  • T
    tero

    das konzept ist klar und absolut verständlich, ich bin wirklich beeindruckt. endlich passiert auch mal was in eine andere richtung!

     

    auch wenn dadurch vielleicht neue kleinere probleme entstehen sollten, es ist längst an der zeit das sich was ändert.

     

    ich selbst habe einen (!) monat an einer hauptschule in nrw gearbeitet und es aufgegeben, aus verschiedenen gründen, die aber alle mit der schule zu tun hatten. dabei war ich gerade mal 2x pro woche an der schule und zwar wegen einer AG und der mittagsaufsicht(ich bin, bzw. werde kein lehrer, sondern war nur dort angestellt gewesen, natürlich auch somit ohne weitreichende befugnisse)

     

    ein kleines beispiel:die kiddies haben sich in der pause mit backsteinen!! beworfen, kein scherz. sogar die aufsichtslehrer haben es schlicht hingenommen, als ich ihnen davon berichtet habe. noch nicht mal ein "wer war das?" wurde geäußert.

    anscheinend kommt so etwas (bei dieser hauptschule) fast täglich vor, denn man konnte die machtlosigkeit der lehrer ganz einfach beobachten....

     

    alle leute die noch immer für hauptschulen sind, sollten mal einen monat lang das alltagsgeschäft an einer hauptschule mitbekommen. es mag nicht an jeder hauptschule sowas vorkommen, aber ich fand diese eindrücke schon sehr erschreckend.

     

    viele grüße

  • MI
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    @ iBot

     

    so wichtig ein Blick über den Tellerrand ist, so ist ein internationaler Vergleich zwischen Schulsystemen schwer und nicht immer sinnvoll (und damit meine ich auch den immer wieder zitierten Vergleich mit Finnland nach PISA).

    Denn zum Erfolg eines Schulsystems gehört mehr als nur die Organisation, sondern zum Beispiel auch gesellschaftliche Akzeptanz und Wissen über das Schulsystem.

     

    Also nur, weil die Schulformen zusammengefasst werden, wird nicht jeder Schüler zu einem Hauptschüler. Viel eher ist es dann wichtiger für potenzielle Arbeitgeber genauer auf die Zeugnisse zu schauen, anstatt nur bei dem Wort "Hauptschule" schon abzulehnen.

  • I
    iBot

    ...so dass trotz völlig gegenteiliger Erfahrungen in ganz Europa auf einmal alle zu Hauptschülern werden. Klar!

    Bildung ist nicht öffentlicher Nahverkehr. Und mittlerweile ist (zumindest in NRW) in jedem Regionalzug die zweite Klasse komfortabler als früher die erste.

  • MI
    mehr informieren

    @ hupe

     

    so sehr einem dieser Vergleich in den Sinn kommt, so unnütz ist er. Denn mit einer Beschulung in einem anderen Schulsystem hängt weitaus mehr zusammen, als mit einem Flug in einer anderen Komfort-Klasse.

    So findet durch die gemeinsame Beschulung eine andere Sozialisation statt und durch einen (hoffentlich) verbesserten Betreuungschlüssel werden mehr und/oder bessere Förderungsmöglichkeiten geschaffen.

    Ganz klarer Vorteil ist das Wegfallen des Stigma "Hauptschulabschluss". Und das es so etwas gibt und das es dauert, bis sich ein neues Stigma bildet sieht man daran, dass trotz Zentralabitur in NRW immernoch vom "Gesamtschulabitur" gesprochen wird.

     

    Ich wünschte mir die Landesregierung NRW würde dem Beispiel Berlins folgen.

  • H
    hupe

    Diese Reform erinnert doch sehr stark an die Abschaffung der dritten Passagierklasse:

     

    Man kann die dritte Klasse nicht wirklich abschaffen. Allenfalls kann man die ZWEITE Klasse abschaffen und die dritte in zweite Klasse umbenennen.

     

    So geschehen bei der Abschaffung der dritten Passagierklasse, und genauso wird sich auch diese Schulreform auswirken.