Die überfällige Schulreform in Berlin: "Man hat sortiert statt integriert"
Am Donnerstag beschließt das Berliner Parlament die Schulreform. Künftig soll die Sekundarschule schwachen und starken Schülern gerecht werden. Das ist dringend nötig, sagt die Lehrerin Evelin Lubig-Fohsel.
taz: Frau Lubig-Fohsel, Schulen müssen immer wieder als Beispiel für das angebliche Scheitern der Integration dienen. Wie kommt das bei Ihnen als Lehrerin an?
Evelin Lubig-Fohsel: Das ist fatal, denn es ist eine kurzschlüssige und auf pauschalen Urteilen gründende Argumentation. Sie ist heute wieder aktuell, hat aber eine lange Tradition, die das ganze bildungspolitische Dilemma, in dem wir heute stecken, dokumentiert.
Am heutigen Donnerstag wird das Abgeordnetenhaus ein Gesetz beschließen, das Berlins Schullandschaft grundlegend ändern soll. Mit der Schulstrukturreform gehen Haupt-, Real- und Gesamtschulen in der neuen Sekundarschule auf. Die soll SchülerInnen verschiedener Leistungsstufen gemeinsam unterrichten, statt sie wie bisher auf verschiedene Schulformen zu selektieren.
Mit dem Lernen in gemischten Gruppen sollen möglichst viele SchülerInnen zu möglichst guten Abschlüssen gebracht werden. Die Sekundarschulen haben dafür mit 25 SchülerInnen nicht nur kleinere Klassen als das Gymnasium, sondern auch zwei Stunden weniger Unterricht pro Woche und flexiblere Stundentafeln. Sie bieten alle Abschlüsse inklusive des Abiturs nach 12 oder 13 Jahren an.
Zunehmende Segregation ist eins der Probleme, die die Schulstrukturreform lösen soll. Segregation meint in dem Fall soziale und ethnische "Entmischung": Eltern meiden Schulen, an denen sie zu viele Kinder aus Familien mit Problemen und mit daraus resultierenden Lernschwierigkeiten vermuten. Als Indikator gilt dafür meist der Migrantenanteil - und zwar keineswegs nur bei deutschen Eltern.
Mit kleineren Klassen und individueller Förderung soll die Sekundarschule künftig schwachen und starken SchülerInnen gerecht werden - und den Eltern so die Angst vor gemischten Schulen nehmen. Der Weg ist der richtige, meint die Lehrerin und Fachfrau für Schule in der Einwanderungsgesellschaft Evelin Lubig-Fohsel.
Inwiefern?
Ich bin seit 40 Jahren Lehrerin, war 1969 im Wedding tätig und habe die Anfänge vor allem türkischer Arbeitsmigration miterlebt. Es war schon damals so, dass die Deutschen die Viertel, in denen die Zuwanderer - oft in eigentlich zum Abriss vorgesehenen Häusern - einquartiert wurden, verlassen haben und woandershin gezogen sind. In die leer werdenden Wohnungen zogen dann wieder Migranten ein. Segregation war eine klare Tendenz. Man hat sie schlicht nicht zur Kenntnis genommen, solange es keine Probleme mit Schulvergleichsstudien oder schulischer Gewalt gab.
Und heute erleben wir die Folgen davon?
Es wurden nicht genug wirkungsvolle Konzepte des Umgangs von Schulen mit Einwanderung entwickelt. Was haben wir denn damals mit den Zuwandererkindern gemacht? Es gab kein Konzept von Integration: Gastarbeiter war der Terminus - und der wirkt heute noch nach. Statt zu überlegen, wie mit der neuen Schülermischung umzugehen sei, wurden Schubladen aufgemacht: Eine hieß Ausländerregelklasse, da wurden die zugewanderten Kinder hineingesteckt. Die nächste hieß Förderklasse, das war für Spätaussiedlerkinder. Für die Älteren gab es die Eingliederungsklassen an den Oberschulen - man hat sortiert statt integriert. Und die Kinder von damals sind die Eltern der Kinder von heute. Das ist vergessen worden. Aber woher soll da Bildungsorientierung, ein positives Verhältnis zu Schule, eine eigene Erfolgserfahrung mit Schule kommen?
Seither hat sich an den Schulen aber doch einiges verändert.
Seit einigen Jahren heißt es zwar, wir seien ein Einwanderungsland. Dass das aber gerade im Bereich Bildung besonderer Weichenstellungen bedarf, ist immer noch kaum Thema. Stattdessen werden die Einwanderer selbst für ihr schulisches Scheitern verantwortlich gemacht, indem man sie als kulturell oder religiös nicht kompatibel, als beratungs- oder bildungsresistent stigmatisiert. Stammtischparolen zu bedienen ist eben einfacher als Aufarbeitung schwieriger Zusammenhänge. Je mehr kulturelle Differenz, also der sogenannte Migrationshintergrund, als Argument betont wird, umso mehr wird die sozioökonomische Lage, die Schichtzugehörigkeit ausgeblendet. Sonst würden die gleichen schulischen Probleme von deutschen Kindern derselben Schicht sichtbar werden, und man könnte sich nicht mehr einreden, dass die Schulprobleme der Migranten selbst verschuldet sind.
Eine durchaus auch unter LehrerInnen verbreitete Ansicht.
Leider ja. Wenn manche KollegInnen heute noch von ausländischen Kindern sprechen, zeigt das, dass sie diese offenbar immer noch nicht als angekommen wahrnehmen. Auch in vielen LehrerInnenköpfen herrscht noch das Grundverständnis: Die gehen wieder zurück. Oder auch: Es dauert zwei, drei Generationen, dann sind sie assimiliert, und so lange sind sie für ihren Bildungserfolg selbst verantwortlich. Man hat noch nicht genug zur Kenntnis genommen, dass wir eine Einwanderungsgesellschaft sind, dass Heterogenität in Schulen normal wird und dass man mit ihr arbeiten muss.
Wie kann das sein - nach 40 Jahren Einwanderung?
Das ist eine Frage, die ich mir auch immer wieder stelle, und es wäre ein interessantes Forschungsthema! Doch leider stehen Lehrer selten im Fokus bildungspolitischen Interesses. Da geht es immer nur um Stundenzahl, Unterrichtsverpflichtungen oder neue Reformen. Aber dazu, was Einwanderungsgesellschaft für Lehrer bedeutet, gibt es kaum Untersuchungen. Ich denke, der Umgang mit Heterogenität ist etwas, was weder an der Uni noch in der Weiterbildung für Lehrer genug behandelt wird. Wie frustriert, teils sogar aggressiv manche KollegInnen, die oft jahrelang ohne Unterstützung in diesen Bereichen gearbeitet haben, sind, nehme ich auch in meinen Fortbildungsveranstaltungen wahr. Statt die Wut aber an die richtigen Adressaten etwa in der Bildungspolitik zu richten, wird sie auf die Schüler und Schülerinnen projiziert.
Wie kommt es zu dieser Wut?
Wenn man feststellt, dass man sein Berufsziel nicht erreicht hat, dass man unglaubliche Schwierigkeiten hat, die eigenen Ansprüche zu realisieren, dann entsteht Wut. Das merke ich auch an mir selbst.
Glauben Sie, dass die Schulreform Abhilfe schafft?
Die Sekundarschulen sind ein absolut richtiger Weg, um endlich auch nach Lösungen zu suchen. Das finde ich gut. Die Reform trifft aber auf überalterte Kollegien, auf KollegInnen, die resigniert oder überfordert sind. Das wird es schwer machen, das alles umzusetzen.
Das klingt aus Ihrem Munde überraschend: Sie sind als Lehrerin auf Altersteilzeit kurz vor der Verrentung gerade wieder fast voll in den Beruf eingestiegen!
Mir hat Schule immer Spaß gemacht - ich war auch nie mit voller Stundenzahl da. Ich habe aber immer mit Sorge auf die KollegInnen geschaut, die bei voller Stundenzahl all das stemmen mussten, was in den letzten Jahren an Herausforderung und Reformen auf sie zugekommen ist. Und mit dem Umbau von Schule allein ist es ja auch nicht getan.
Was muss noch passieren?
Es muss ein Ruck durch die ganze Gesellschaft gehen … Im Ernst: Wir brauchen einen Ruck in Sachen Einwanderungsgesellschaft. Wir haben überhaupt noch nicht kapiert, was das bedeutet: nicht nur Ringelpiez mit Anfassen! Wir müssen uns den Problemen stellen, die gehören dazu. Es ist falsch, jetzt mit der pauschalen Aussage, Integration sei gescheitert, alles vom Tisch zu wischen. Wir haben ja noch gar nicht richtig angefangen!
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