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Schuldig im Sinne der Anklage

■ Voscherau & Co. verweigerten dem Tribunal die Aussage / Hamburger Flüchtlingspolitik verstößt gegen geltendes Recht Von Patricia Faller

Hamburg verstößt mit seiner Flüchtlingspolitik nicht nur gegen Humanität und Menschenwürde, sondern teilweise auch gegen geltendes Recht. Zu diesem Urteil kamen die acht Jury-Mitglieder des Tribunals gegen die Hamburger Flüchtlingspolitik gestern Abend nach fast dreitägiger Beweisaufnahme.

Das Hamburger Sammelunterkünfte kritisierten sie als Massenverwahranlagen, die die dort lebenden Flüchtlinge krank machen. Der Senat verletzte in vielfältiger Hinsicht die Bestimmungen der UN-Kinderkonvention, die Kinder unter 18 Jahren einen besonderen Schutz und Fürsorge zuerkennt, mit seiner Praxis „16 Jahre gleich erwachsen“. Durch pauschale Vorverurteilungen jugendlicher Flüchtlinge als Dealer werde ein Klima geschaffen, das gewaltsame Übergriffe der Polizei begünstige und legitimiere. Abschiebungshäftlingen würden zu Objekten staatlicher Gewaltausübung degradiert und elementarer Grund- und Menschenrechte beraubt.

Die Vertreterinnen der Anklage hatten zuvor die Auflösung der Massenlager, einen sicheren Aufenthalt für minderjährige Flüchtlinge mit einer individuellen Betreuung und die Abschaffung der Abschiebehaft gefordert.

Verhandelt werden mußte ohne die Angeklagten, unter denen sich neben Bürgermeister Henning Voscherau, SenatorInnen, Bedienstete der Ausländerbehörde, Haftanstaltsleiter und ÄrztInnen befanden. 14 Tage vor Beginn des Tribunals waren die 36 Anklageschriften zwar verschickt worden – das entspricht der gesetzlichen Widerspruchsfrist von Flüchtlingen. Zwei Angeklagte verweigerten die Annahme. Der Leiter der Einwohner-Zentralamts, Ralph Bornhöft, konterte mit einer Anzeige gegen die Veranstalter. Und nur ein Kinderarzt des UKE hatte das Format, eine Anwältin für ihn aussagen zu lassen. Der Rest schwieg. Die Jury bedauerte dies sehr: „Die Zurückweisung dieses Angebots von Bürgerinitiativen, deren konkrete Hilfe bei der Aufnahme und Umsorgung der Flüchtlinge ansonsten in Anspruch genommen wird, spricht nicht für eine politische Streitkultur der Hamburger Verwaltung.“

30 Zeugen und Sachverständige wurden gehört, wobei es schwierig war, Flüchtlinge, vor allem Frauen, zu finden, die öffentlich aussagen wollten. Sie hatten entweder Angst vor Repressionen oder waren bereits abgeschoben. Den mehr als 1000 ZuhörerInnen, darunter auch viele HamburgerInnen ohne deutschen Paß, bot sich ein unerträgliches Bild der Flüchtlingspolitik. Nicht umsonst rühmt sich die Stadt damit, bundesweit die meisten Flüchtlinge abzuschieben.

Nach dem Berliner Basso-Tribunal, wo im vergangenen Frühjahr die europäische Asylpolitik angeprangert wurde, war die Veranstaltung die erste, die den alltäglichen Rassismus vor der Haustür anklagt und den Landespolitikern Handlungsspielräume aufzeigen wollte. Denn die am häufigsten bemühte Entschuldigung ist: Wir können nicht anders, wir müssen die Vorgaben des Bundes umsetzen.

In den nächsten Tagen wird den „Angeklagten“ das Urteil an ihre Arbeitsstelle zugestellt.

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