Schützenvereine: Geht doch!
Die Saison der Schützenfeste beginnt. Viele denken an Männer in Uniform mit komischen Puschelhüten. Doch wie schlimm sind Schützenvereine wirklich?
HAMBURG taz | Stadtfest Meppen 2013: Die emsländische Kreisstadt ist weitestgehend verkehrsberuhigt, Kinderkarussels, Bierwagen, Fressbuden und Bühnen sind am Samstagnachmittag noch locker bevölkert; die Menschenmassen rücken erst gegen Abend an. Plötzlich erklingt aus der Ferne das Geschepper eines Spielmannszuges – ungewöhnlich für Anfang September, denn dann ist die Schützenfestsaison normalerweise vorbei. Viele junge und alte Männer und wenige Frauen marschieren im Gleichschritt in die Innenstadt ein, manche in vollem Ornat mit Orden und Königsketten und Puscheln am Hut, eine schier endlose Formation von Schützenbrüdern bewegt sich Richtung Fußgängerzone.
Die bunte Stadtfestmeile ist plötzlich dominiert von grünen Uniformierten. Riesige Fahnen in Rot und Grün und Braun mit aufgesticktem Eichenlaub, Zielscheiben oder Hirschköpfen werden gehisst. Während die Meppener gelassen bleiben, gaffen Touristen mit offenem Mund, eine Frau schüttelt lachend den Kopf, als Meppenes Bürgermeister Jan Erik Bohling (CDU) die Männer allen Ernstes „mit einem dreifachen Horrido“ begrüßt und alle dreimal „Horrido“ zurückbrüllen. Nahezu alle haben eine Flasche Bier in der Hand, auch die mit den Orden und Ketten und Puscheln. Dabei müssen sie später noch auf einen hölzernen Adler zielen, denn heute ist „Kaiserschießen“, da wird aus den Schützenkönigen aller 16 Meppener Schützenvereine „der Kaiser ausgeschossen“, wie es im Jargon der Schützenbrüder heißt. Der Sieger kriegt zur Belohnung eine mit allerlei Blechorden behangene Kette und regiert fortan für fünf Jahre die „vereinigte Schützenbruderschaft Meppen“.
„Im Auge Klarheit – im Herzen Wahrheit“: Dieser Schützen-Leitspruch findet sich natürlich ebenfalls großformatig und wahrscheinlich handgestickt auf einem der Vereinsbanner – aber es gibt wohl kaum einen Satz, der überholter, um nicht zu sagen: das glatte Gegenteil dessen ist, was Schützenvereine, die eine durchaus interessante Tradition haben, in der heutigen Zeit ausmachen. Denn nicht nur beim Meppener Kaiserschießen wird das klare Auge bereits vor der ersten Berührung mit dem Abzug routiniert getrübt mit Alkohol, auch die Wahrheit im Herzen legt sich zumindest einmal im Jahr anlässlich des langen Schützenfest-Wochenendes schlafen. Da nimmt’s der Schützenbruder nämlich plötzlich nicht mehr so genau mit Vorbildfunktion und Jugendschutz, mit Gleichberechtigung, Rücksicht und Respekt – aber vielleicht ist ja auch genau das die Wahrheit, die in Wirklichkeit das restliche Jahr über döst.
Nur der bayerische Sportschützenbund ist mit knapp 470.000 Mitgliedern größer als die Schützenbünde Niedersachsen und Nordwest mit zusammen knapp 307.000 Mitgliedern. Dazu kommen die katholischen Schützenbruderschaften, die vor allem in Nordrhein-Westfalen, aber auch in Niedersachsen aktiv sind.
Dabei gilt die Faustregel: je ländlicher, desto mehr Vereine; der Schützenbund Osnabrück-Emsland-Grafschaft Bentheim vereint 22.000 Menschen in rund 230 Vereinen – allein im Landkreis Emsland werden zwischen April und August 180 Schützenfeste gefeiert.
Wer da nicht mitmacht, ist im Sommer recht einsam auf weiter Flur, die Straßen sind bis auf die Grünröcke mancherorts menschenleer. Wer keine Uniform tragen mag, der feiert samt Kind und Kegel trotzdem mit auf einer der zahllosen Feste in Orten oder Bauernschaften wie Brümsel, Plantlünne oder Kathen-Frackel. Nicht selten nehmen EmsländerInnen extra fürs Schützenfest ein paar Tage Urlaub.
Überall läuft es gleich ab: Die Schützenbrüder marschieren hinter einem Spielmannszug her, der erbärmlich schief den „Narhallamarsch“ oder „Blau blüht der Enzian“ intoniert, danach findet ein Wettschießen auf eine Scheibe oder einen Holzvogel statt, und wer gewonnen hat, wird Schützenkönig. Und der muss zwei bis vier Tage lang begossen werden, wobei er einen guten Teil davon selbst ausgeben muss – es ist nicht eben billig, König zu sein.
Auch in Bawinkel-Plankorth wird ordentlich gebechert, da kann der Erste Vereinsvorsitzende Heinz Lake noch so über den NDR schimpfen. Der wollte nämlich im September 2010 in der Reihe „45 Minuten“ eine Dokumentation über das Schützenfest in der zur kleinen emsländischen Gemeinde Bawinkel gehörigen Bauernschaft Plankorth mit dem Titel „Prost Deutschland“ senden.
Aber erst ein knappes Jahr später lief sie im Fernsehen, denn die Plankorther Schützen hatten sich gegen die Ausstrahlung gewehrt: Nach Angaben Lakes habe der Sender ihnen „eine schöne Dokumentation über Volksfeste im Norden versprochen“. Herausgekommen sei aber eine Sendung, „die sich mit Alkoholkonsum oder gar Alkoholmissbrauch beschäftigt“. Das sei eine verzerrte und falsche Darstellung. Der NDR bearbeitete den Beitrag dann tatsächlich noch einmal – aber selbst die entschärfte Version zeigte im Grunde genommen nichts weiter als bechernde Menschen. Auch deren Ausstrahlung wollte Lake mithilfe eines Rechtsanwalts verhindern, diesmal allerdings ohne Erfolg.
Wenig Erfolg hatten auch zwei Handvoll junger Schützenbrüder, die sich im Jahr 2011, nach einem bühnenreifen Auftritt auf dem Schützenfest im emsländischen Örtchen Wesuwe, plötzlich bei Youtube wiederfanden, und zwar in einem wackelig aus der Hand aufgenommenen Video mit dem Titel „Deprimierendes Emsland: 8. Mai. Wesuwe.“ Zu sehen ist deren Einmarsch auf das Festgelände: Trotz strahlenden Sonnenscheins ganz offensichtlich bereits stark alkoholisiert, formieren sie sich in Zweierreihen, ein paar mit Bieren in der Hand, und marschieren, den Gleichschritt nur mühevoll einhaltend, Richtung Festzelt. Dabei grölen sie laut und schief „Preußens Gloria“.
Keine zwei Minuten dauert der kleine Einblick in die Gaudi – zu lang für die Protagonisten. Einer von ihnen machte sich die Mühe, Namen und Adresse der Filmemacherin ausfindig zu machen und stattete ihr einen Besuch ab. Seiner nachdrücklich vorgetragenen Bitte, das Video unverzüglich aus dem Internet zu entfernen, kam die nicht nach, allerdings tat das Youtube – per automatisierter Reaktion auf die Beschwerde der untalentierten Sänger. Kurz darauf erschien der Film auf dem Videoportal Vimeo, wo er bis heute steht.
Dabei handeln beide Beispiele von den eher harmlosen Normalitäten auf Schützenfesten. Später am Tag, wenn zum Bier noch der Korn oder allerlei bunte Schnäpse hinzukommen, sind sowohl die uniformierten als auch die zivil gekleideten, oft noch minderjährigen Feiernden vollends außer Rand und Band, da fliegen auch mal Stühle oder Fäuste, bevor der Magen nicht mehr mitspielt. Auch dabei sind nicht selten Kinder zugegen.
„Hier gibt’s ja sonst nichts“, ist die übliche Begründung für Mitgliedschaft in Schützenvereinen und Teilnahme an Schützenfesten. Doch die fast schon entschuldigend klingende Begründung greift zu kurz, schließlich könnten sich all die Menschen vom Land, die die Alternativlosigkeit von Schützenfesten und -vereinen beklagen, selbst Alternativen schaffen. Angesichts der schwachen, lediglich dem demografischen Wandel geschuldeten Rückläufigkeit der Mitgliedszahlen in Schützenvereinen scheint es eher so zu sein, dass auch die junge Generation keinerlei Berührungsängste vor Marschmusik und Uniformen hat und sich ohne Not einfügt in eine Welt der Gleichmacherei von Männern und der Ungleichheit der Geschlechter: Noch immer sind die Schützenvereine in der Überzahl, in denen eine Schützenkönigin lediglich das schmückende Beiwerk des Regenten ist.
Schwule Königspaare sind bundesweit die Ausnahme und werden mancherorts sogar verboten: Der Bund der Historischen Deutschen Schützenbruderschaften hat einen ihrer Mitgliedsvereine, der Münsteraner Bruderschaft St. Wilhelmi, vor zwei Jahren schriftlich angewiesen, dem Lebensgefährten ihres schwulen Schützenkönigs das Auftreten als dessen Partner zu untersagen. Er dürfe beim Marschieren lediglich vor oder hinter ihm hergehen. Die Antidiskriminierungsstelle des Bundes hat dieses Vorgehen als rechtswidrig eingestuft und an den Schützenverband appelliert, die Regelung zurückzunehmen – bislang erfolglos. Der Schützenverband seinerseits beruft sich auf die katholische Kirche.
Attraktiv macht die Schützenvereine aber wohl eher, dass sie eine Art Ausnahmezustand sanktionieren. Das ist wichtig in ländlichen Strukturen mit ausgeprägter Sozialkontrolle, in denen es kaum die Möglichkeit gibt, im Schutze der Anonymität mal so richtig die Sau rauszulassen. Beim Schützenfest darf das jeder, dort darf man selbst jenem Nachbarn dreckige Witze erzählen, der sonst die Polizei ruft, wenn er um 22:01 Uhr noch Gelächter von nebenan hört. Dort dürfen verheiratete Männer auch mal die Frau des besten Freundes anbaggern, dort verbietet den Jugendlichen keiner das Pöbeln und Saufen, im Gegenteil: Wer nüchtern bleibt, ist ein Spielverderber. Der Schützenverein: ein paramilitärisches Paradies des Miteinanders, wo alle Unterschiede aufgehoben sind.
Der nicht ganz unumstrittene Kriminologe Christian Pfeiffer hat in Zusammenarbeit mit dem Landkreis Emsland die Studie „Jugendliche als Täter und Opfer von Jugendgewalt“ herausgegeben, wonach die Jugendkriminalität in der Gegend gering ist. Bei der Präsentation der Studie nannte Pfeiffer als Gründe „intakte Strukturen“, ein „Wertekonzept, das allgemein geteilt wird“ und ein „funktionierendes Vereinsleben“. Das erschwere es den Jugendlichen „auszuscheren und dumme Sachen zu machen“.
Saufen meinte er damit freilich nicht, denn da liegt die Quote drei Prozent höher als im Bundesdurchschnitt. Auch dafür ist recht eindeutig das „funktionierende Vereinsleben“ verantwortlich – Horrido!
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