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Schüsse, Schuld, Gerechtigkeit

■ Nach sechs Verhandlungstagen im Berliner Landgericht ist immer noch offen, ob der Prozeß um den Tod von Chris Gueffroy der Grenzwirklichkeit gerecht werden kann oder zum peinlichen Ost-West-Spektakel wird.

Schüsse, Schuld, Gerechtigkeit Nach sechs Verhandlungstagen im Berliner Landgericht ist immer noch offen, ob der Prozeß um den Tod von Chris Gueffroy der Grenzwirklichkeit gerecht werden kann oder zum peinlichen Ost-West-Spektakel wird.

Chris Gueffroy starb schon nach wenigen Minuten. Nach dem Gutachten von Professor Helmut Schmechta, der den Toten am 6. Februar 1989 obduziert hatte und der gestern im im Moabiter Mauer-Prozeß als Sachverständiger vernommen wurde, erlitt Gueffroy einen Herzschuß, der die rechte Herzkammer zerriß. Schmechta, damals Leiter des gerichtsmedizinischen Instituts der Militärärztlichen Akademie der DDR, schloß aus, daß Chris Gueffroy von einem Querschläger getötet wurde. Die Obduktion ergab, daß die tödliche Kugel direkt von links vorne, neben der linken Brustwarze in den Körper des Flüchtenden eingedrungen und etwas höher rechts hinten ausgetreten ist. Ein zweiter Schuß traf Gueffroy in den rechten Fuß, weitere Verletzungen wies der Tote nicht auf. Die vier Grenzsoldaten, von denen drei geschossen haben, hatten sämtlich ausgesagt, sie hätten ausschließlich auf die Füße gezielt. Ebenfalls befragt wurde gestern André Lieber, der in der Fluchtnacht als Aufnahmearzt im Krankenhaus der Volkspolizei Dienst hatte. Zusammen mit einer Kollegin stellte er den Tod von Gueffroy fest, auf Weisung eines Stasi-Mitarbeiters schrieb die Ärztin nicht „Herzdurchschuß“ als Todesursache, sondern „Herzverletzung“ auf den Totenschein.

Nachdem dieses Gutachten erstattet ist, die vier Angeklagten und der wichtigste Zeuge — Christian Gaudian — vernommen sind, ist die Beweisaufnahme zum eigentlichen Geschehen in der Nacht vom 5. auf den 6. Februar 1989 weitgehend abgeschlossen. An den nächsten Verhandlungstagen werden jetzt die Vorgesetzten der Angeklagten vernommen — Zeugen, die möglicherweise selbst schuldig sind.

Allerdings konnte die Situation in der Fluchtnacht nicht bis ins Detail geklärt werden. So hat Gaudian ausgesagt, die Grenzsoldaten hätten nur „Halt! Stehenbleiben!“ gerufen, während er und Gueffroy aus einem Graben zum Stahlgitterzaun rannten. Die früheren Grenzer hatten jedoch übereinstimmend angegeben: „Halt, stehenbleiben, sonst schießen wir!“ Unklar ist auch, wann die ersten Schüsse tatsächlich fielen. Nach Gaudians Darstellung wurde nämlich bereits geschossen, als beide zum letzten Zaun liefen und dann versuchten, per Räuberleiter über den Zaun zu klettern. Kühnpast dagegen: „Die beiden Grenzverletzer standen schon am letzten Grenzhindernis, dem Metallgitterzaun.“ Er und sein Postenführer Peter Schmett hätten „mindestens zweimal“ angerufen. Weil die beiden Flüchtenden darauf nicht reagierten und statt dessen zweimal eine Räuberleiter versuchten, hätten er und Schmett das Feuer eröffnet.

Gaudian gibt an, sein Freund und er hätten sich nach der mißglückten Räuberleiter ergeben: „Wir standen regungslos mit dem Gesicht zu den Grenzsoldaten, die auf uns zurannten.“ Dennoch sei weitergeschossen worden, die Projektile hätten „in Höhe von Kopf bis Unterleib“ auf dem Zaun eingeschlagen. Die drei Grenzsoldaten, die schossen, geben an: Wir zielten auf die Füße.

Bei einer Vernehmung in der DDR gab Gaudian zu Protokoll, die letzten Schüsse seien gefallen, als er und Gueffroy die Räuberleiter versuchten. Nun stellt er fest: „Es stimmt nicht, wie es in den DDR- Protokollen steht“, und ergänzt, seine Aussagen seien verfälscht wiedergegeben worden.

Offen bleibt auch, was die beiden befreundeten jungen Männer vereinbart hatten, falls sie bei der Flucht gestellt würden. Laut Gaudian hatten sie geglaubt, an der Berliner Mauer werde nicht mehr geschossen. Wieso waren die beiden dann nicht geschockt von den Schüssen, wieso haben sie in dem Kugelhagel weiter versucht zu fliehen? Hatten sie keine Angst? Fragen, die unbeantwortet bleiben — sie wurden nicht gestellt.

Christian Gaudian ist heute 22 Jahre alt, von Beruf Kellner. Damals, von Oktober 1987 bis Februar 1989, arbeitete er im Nobelrestaurant „Ephraim-Palais“ im Nikolaiviertel. Bereits 1986 lernte er auf der Berufsfachschule Chris Gueffroy kennen, der anschließend im Café „Rendezvous“ in der Rathauspassage am Alexanderplatz kellnerte.

Der Stasi-Major und der Strafrichter

1987 beschlossen beide, gemeinsam abzuhauen. Gaudian heute: „Wir waren mit dem System nicht einverstanden.“ Um beruflich weiterzukommen, hätte man Parteimitglied sein müssen. Außerdem, so Gaudian, sollte Chris Gueffroy zum Wehrdienst eingezogen werden. Beide träumen davon, durch die Canons in Amerika zu fahren. Spruchreif wird der Fluchtgedanke erst 1989, als viele westliche Politiker und Journalisten öffentlich behaupten, es gebe keinen Schießbefehl mehr.

Gaudian hatte bereits vor der Staatssicherheit in Ost-Berlin auszusagen. Anschließend verurteilte ihn die Strafkammer des Stadtbezirksgerichts Berlin-Pankow in einem Geheimverfahren „wegen versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts in schwerem Fall“. Den Vorsitz führte Roland Milich, die Anklage vertrat die Staatsanwältin Roehl, die Verteidigung der renommierte Dieter Stakulla. Gesteuert hat dieses Verfahren der Diplomjurist und Stasi-Major Ulrich Endesfelder „entsprechend dem zentral bestätigten Maßnahmenplan“ mit dieser Zielsetzung: „Es ist vorgesehen, eine Freiheitsstrafe in Höhe von drei Jahren zu beantragen.“ So geschah es, alle Verfahrensbeteiligten stimmten zu. Und Christan Gaudian erklärte damals in seinem Schlußwort: „Alles tut mir leid, ich hätte viel Leid ersparen können.“ Am 17. Oktober 1989 wurde er nach Berlin-West abgeschoben. Der Stasi-Major ist heute Rechtsanwalt, der Vorsitzende Richter zusätzlich Notar. Beide betreiben eine gemeinsame Kanzlei in Ost-Berlin. Thorsten Schmitz

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