Schüler spielen Historie: Geschichte wird erlebt
Ein Projekt des Jugendmuseums lässt Schüler schlesische Arbeiter und böhmische Glaubensflüchtlinge spielen - und um ihre Rechte zu kämpfen lernen.
"Die Arbeit damals war sehr hart und der Alltag so monoton", sagt eine Siebtklässlerin. "Man hatte aber auch die Möglichkeit zu streiken, das war gut", sagt ein Sechstklässler. "Nie wieder Schuhe putzen", ruft eine andere Schülerin in die Runde. Die Schüler proben Anfang der Woche im Schöneberger Jugendmuseum noch ein letztes Mal ihren Auftritt. Gestern Abend haben sie das Modellprojekt "Heimat Berlin - Migrationsgeschichte für Kinder" vorgestellt,. Sechs Schöneberger Grund- und Oberschulklassen haben mit fast 100 Schülern im Alter von 11 bis 13 Jahren daran teilgenommen.
"Historisches Konfrontationstheater" heißt die Arbeitsmethode, mit der während der ersten Etappe des dreijährigen Modellprojekts gearbeitet wurde, das vom Bundesprogramm für Toleranz und Demokratie gefördert wird. Historische Ereignisse, die sich in Schöneberg zugetragen haben, wurden zur Rahmenhandlung des Workshops: die Ansiedlung böhmischer Glaubensflüchtlingen im 18. Jahrhundert und die Einwanderung von Schlesiern Ende des 19. Jahrhunderts.
So erhielten die Schüler Rollen als Tagelöhner, Dienstmädchen oder als einheimische Altschöneberger Bauern, die sie drei Tage lang spielen mussten. Es gab zwar kein Publikum, aber von Zeit zu Zeit traten erwachsene Schauspieler als historische Konfrontationsfiguren auf, um die Handlung anzuheizen. Sie kürzten beispielsweise die Löhne oder setzten als Hausherrinnen ihre Dienstmädchen unter Druck. In solchen Situationen mussten die Kinder dann entscheiden, was sie tun. Weiterarbeiten oder streiken? Am Ende sollten alle Kinder die Erfahrung gemacht haben, wie man sich als Einwanderer oder Glaubensflüchtling in einem fremden Land fühlt, welche Konflikte dabei entstehen können. Aber auch, wie sich ein gemeinsames Zusammenleben gestalten lässt.
Ein weiteres Ziel des Projekts "Heimat Berlin" sei es herauszufinden, welche Rolle die Geschichte der Eltern auf die Entwicklung der Identität eines Kindes hat, erklärt Petra Zwaka, Leiterin des Jugendmuseums. "Allerdings kann man so junge Kinder nicht einfach danach fragen", so Zwaka. Das würde nicht funktionieren, da die meisten Kinder nicht nur zu jung, sondern auch gar nicht selbst eingewandert seien. "Wenn man aber den Umweg über die Geschichte geht und sie in Situationen bringt, in denen sie Einwanderung erleben, dann können sie Parallelen zu ihren eigenen Erfahrungen ziehen", so die Museumsleiterin.
Und so gab es im Projekt zwar Kinder, die über Diskriminierung aufgrund der Religion gesprochen haben, oder welche, denen die Problematik um illegalen Aufenthalt und Abschiebung bewusst war. Aber die Mehrheit hatte, wie sich unerwartet herausstellte, vielmehr mit dem Thema berufliche Zukunft und die damit verbundene ökonomische Sicherheit zu kämpfen. "Es gab Klassen, in denen Schüler einfach nicht streiken wollten, weil sie solche Angst davor hatten, ihre Arbeit zu verlieren", so Zwaka. Das seien meist die Siebtklässler gewesen, für die das Thema Ausbildungsplatzsuche schon sehr präsent ist. Die Theaterpädagoginnen Christine Matt und Sabine Ostermann, die die Schüler während der Workshops begleitet haben, erklären, dass sie viele Schüler erst zur Auflehnung motivieren mussten. Als sie dann aber Feuer gefangen hätten, seien sie nicht mehr zu bremsen gewesen. Höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen, das Recht auf die eigene Sprache und Kirche waren einige der vielen Forderungen, die sie stellten.
Letztendlich finden die Schüler, dass sich in den letzten 100 Jahren einiges verändert habe, dass sich etwa die Arbeitsbedingungen verbessert hätten und die Situation der Frauen. "Berlin ist heute anders", heißt es aus einer Ecke. Doch es gibt auch Kritik an der Gegenwart. "Noch heute dürfen Menschen in diesem Land nicht wählen, nur weil sie den falschen Pass haben", sagt eine Schülerin. "Wenn Dinge schieflaufen, muss man für sein Recht streiken", sagt ein anderer. Zufrieden erklären Matt und Ostermann, dass viele Kinder während des Projekts gelernt hätten, nicht immer alles hinnehmen zu müssen und an ihrer Situation etwas ändern zu können. "Das Gefühl, hier etwas geschafft zu haben, ist viel wert", sagen die beiden Pädagoginnen.
Der nächste Schritt im Projekt ist die Beschäftigung mit der jüngeren Einwanderungsgeschichte. Dabei sollen Schüler voraussichtlich Orte in Berlin erkunden und Interviews mit Menschen aus der ersten Generation von Gastarbeitern führen. "Es wäre schön, wenn etwa Erzählzirkel mit Kindern, Eltern und Großeltern entstehen", so Zwaka. Migrationsgeschichte müsse heute aus unterschiedlichen Perspektiven gesehen werden.
HEIMAT BERLIN: Einblicke in die Arbeit des neuen Modellprojekts, Jugendmuseum Schöneberg, Hauptstraße 40-42, bis 31. 3. 2012
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen