piwik no script img

■ Schröder verordnet Denkpause im Atomstreit bis zum HerbstAusstieg im Abklingbecken

Schröder hat den Atomausstieg im heißen Sommer 1999 auf Eis gelegt – Denkpause bis zum Herbst, dann soll mit den Stromern wieder verhandelt werden. Bis dahin wird eine Arbeitsgruppe auf Staatssekretärsebene die juristischen Fragen klären. Damit ist das ebenso brisante wie lästige Thema erst mal in einem gegen die Öffentlichkeit mit Bleiplatten gut isolierten Abklingbecken zwischengelagert.

Und alle haben Zeit, ihre Strategien neu zu überdenken. Die Denkpause bewahrt die Koalition vor einem atomaren Sommertheater mit einem gefährlich wachsenden Fallout an Interviews, in denen Atomindustrie und Koalitionäre, Grüne und Rote im Ausstiegspingpong sich die Restlaufzeiten um die Ohren schlagen. Sie gibt auch den Grünen und ihrem Umweltminister Jürgen Trittin Gelegenheit zu einer Bestandsaufnahme im festgefahrenen Verhandlungspoker. Die Grünen, der Ökoflügel der SPD und die gesellschaftliche Restvernunft sind sich zumindest in einem einig: Die von Wirtschaftsminister Müller und den Atomkonzernen geforderte Laufzeit von 35 Jahren für die Meiler ist unannehmbar. Sie bedeutet keinen Ausstieg, sondern ein Auslaufen der deutschen AKW. Sie läßt den Betreibern alle Freiheiten, den Zeitpunkt des Abschaltens wirtschaftlich zu optimieren. Sie opfert das Primat der Politik, über eine Technik zu bestimmen, die im Falle ihres Versagens Europa in einen strahlenden Komposthaufen verwandelt.

Aber diese wichtigste Ausstiegsmotivation taucht kaum mehr auf. 35 Jahre! Nur wenige Reaktoren, die optimal laufen, könnten an diese Betriebszeit herankommen. Die meisten werden – ob mit oder ohne Atomausstieg – früher vom Netz genommen. 35 Jahre ist die Traumzahl der Atomiker, die sie selbst gar nicht ausnutzen können. Sie haben damit eine Marge vorgegeben, die größer ist als notwendig, und sie wollen sich dieses „Opfer“ fürstlich vergolden lassen. Im Kleingedruckten müßte Rot-Grün dann nämlich den politisch ungestörten Restbetrieb garantieren, auf quälende Sicherheitsüberprüfungen verzichten, die ungesetzliche Nichtentsorgung stillschweigend tolerieren und für die Wiederaufarbeitung großzügige Übergangszeiten festlegen. Das wäre kein Konsens, das wäre die Kapitulation – paradiesische Verhältnisse für die Industrie.

Zur Erinnerung: Weltweit hat bisher kein einziges AKW auch nur eine Laufzeit von 30 Jahren erreicht. Die 35 hat also auch ihr Gutes: Sie ist so unverschämt, daß auch der nachdenkliche Teil der SPD sie ablehnen muß. Sie kann auch Schröder nicht gefallen. Sie ist der unübersehbare Versuch, die Grünen an ihrem Identitätsthema in die Knie zu zwingen. Es geht nicht allein um Restlaufzeiten, es geht auch darum, wer sich in dem jetzt zwei Jahrzehnte andauernden Kampf um die dümmste Art, Kaffee zu kochen (mittels der Spaltung von Urankernen), als Sieger fühlen darf. Schon 30 Jahre Laufzeit – immer noch eine Idealzahl für die Industrie – würden zumindest für zwei Meiler das politische Aus noch in dieser Legislatur bedeuten. Diesen Triumph will man jenen grünen Latzhosenbrigaden, die jahrelang am Bauzaun gerüttelt, mit Demonstrationen genervt und mit Prozeßlawinen Geld gekostet haben, auf keinen Fall gönnen. Es geht beim Atomausstieg auch um Symbole, ums Rechthaben, um Sieger und Besiegte.

Was können die Grünen tun? Umweltvorsteher Trittin hat eine „härtere Gangart“ angekündigt, und man hörte förmlich, wie sich die Atommanager verängstigt hinter ihren Schreibtischen verkrochen. Im Ernst: Ein Scheitern der Atomverhandlungen wäre nicht die schlechteste Lösung. Sie gibt Rot-Grün zumindest das politische Primat zurück. Es darauf anzulegen erfordert indes ein hohes Maß an taktischem Geschick, was man den Grünen gegenwärtig kaum zutraut. Das weitere Beharren der Atomindustrie auf ihrer Traumzahl 35 bietet aber zumindest die Chance, daß der Atomkonsens platzt.

Eine echte Energiewende wäre in zehn Jahren zu stemmen. Nur: Die Traumziffer der AKW-Gegner kommt in der gegenwärtigen Diskussion kaum vor. Ein einziger „Störfall“ in einem der 400 Nuklearmeiler weltweit würde die Machbarkeit dieser Ausstiegszahl sofort beweisen. Niemand wünscht sich das, aber es kann passieren. Einmal in 100.000 Jahren. Schon bei Tschernobyl mußten wir erkennen: Kinder, wie die Zeit vergeht! Manfred Kriener

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen