Schriften zu Zeitschriften: Europäisches Denken im "Merkur"

Tiefer hängen, genauer gucken: Der "Merkur" analysiert die Lage der Kunst im öffentlichen Debattenraum.

Eine der bezeichnendsten Geschichten, anhand derer man die Rolle von Kunst in Deutschland beschreiben kann, fand im Jahr 1937 statt. Damals trat der nationalkonservative Leipziger Oberbürgermeister Carl Goerdeler von seinem Amt zurück, das er seit 1930 innehatte. Goerdeler, später aktiver Nazigegner, wurde nach dem gescheiterten 20.-Juli-Attentat im Februar 1945 in Berlin-Plötzensee hingerichtet. 1937 gab er seinen Posten aus Protest gegen die von den Nazis durchgesetzte Entfernung des Felix-Mendelssohn-Bartholdy-Denkmals auf: Der getaufte Komponist (1809-1847), der auch in Leipzig gewirkt hatte, entstammte einer berühmten jüdischen Familie; seine Werke waren unter dem NS-Regime verfemt.

Nun gab es bereits seit 1933 Konzentrationslager, massenhafte Emigration, Entlassungen, das berüchtigte Nürnberger Gesetz, den Terror des Nazimobs gegen Juden. All das hatte Goerdeler nicht zum Rücktritt veranlasst. Erst als es gegen die Kunst ging, zudem in einem symbolischen Denkmalskampf, wollte er nicht mehr mitspielen. Wenn die irdischen Schrecken das himmlische Reich der Kunst in Mitleidenschaft ziehen, dann erst ist für manche deutschen Bildungsbürger Schluss. Und dennoch steckt in dieser Episode auch eine ebenso befremdliche wie faszinierende Romantik.

Heute ist materieller Erfolg die entscheidende Kategorie bei der Verehrung für künstlerische Produktion, egal ob es nun um die Auflagenziffern für Daniel Kehlmann geht oder um die Summen, die für die Bilder Neo Rauchs gezahlt werden. Gerade weil aber die Rede von der Kommerzialisierung zur kulturkritischen Binsenweisheit geworden ist, tut es gut, wenn man sich ab und an daran erinnert, dass Kunst traditionell eine andere, ziemlich existenzielle Dimension hat: Da kann es manchmal auch heute noch um die letzten großen Fragen gehen.

Auf diese schaut das aktuelle Heft des Merkurs angesichts der heftigen Kunstdebatten der letzten Zeit. Remigius Bunia schildert die unübersichtliche Konfliktlage "Kunstfreiheit versus Persönlichkeitsschutz" im Falle des Verbots von Maxim Billers "Esra"-Roman und kommt zum Schluss, dass der Konflikt nicht auszuräumen ist - was auch gut sei: Nicht "Konsens strukturiert die gesellschaftliche Kommunikation maßgeblich, sondern Konflikt." Daher hofft Bunia auch, dass der konfliktfreudige Kölner Kardinal Meisner "demnächst wieder eine seiner - aus meiner persönlichen Sicht oft verdammungswürdigen - Meinungsäußerungen wagt."

Ganz genau hat der Kunsttheoretiker und taz-"Warenkunde"-Kolumnist Wolfgang Ullrich in diesem Fall hingeschaut. In der Debatte um das umstrittene Gerhard-Richter-Glasfenster sieht er im Kölner Dom zwei Religionen miteinander konkurrieren: "Der Kardinal wehrt sich gegen einen fremden Gott in seiner Kirche." Für Ullrich stecken nämlich in den kunsttheoretischen Exegesen der Richter-Freunde massenweise kunstreligiöse Topoi, die die künstlerische Moderne einfach aus der von ihr so heftig bekämpften Tradition übernommen hat: Überall ist von "Unendlichkeit", "Transzendenz", "Spiritualität und Licht" die Rede. Richter selbst hatte gemeint, der Kardinal "könnte der Einzige sein, der mitkriegt, dass das wirklich nicht katholisch ist, das Fenster".

Die gute alte Kulturkritik gibt es natürlich auch im Heft: Claudia Schmölders Essay betrachtet die "Gesichter der Dichter" von der Antike bis heute. Grundsatzkonflikte auch hier: "An Dichtern interessieren mich gerade die Gesichter recht wenig", beschied einst Hugo von Hofmannsthal Stefan George abschlägig, nachdem dieser um eine Fotografie für ein Dichtersammelbild gebeten hatte. Das sah George ganz anders: "ich sage ob einer dichter ist darüber entscheidet rascher und uns grade so untrüglich ein gesicht wie sein gedicht". Heute hingegen sei der visualisierte Dichter zum Dressman geworden, so Schmölders unter dem Eindruck einiger in Modekollektionen von Armani bis Givenchy für Vanity Fair posierender Autoren wie Durs Grünbein und Dietmar Dath. Am Ende einer jahrhundertelangen Entwicklung des Poeten "vom Mann mit Geist und Muße" über den Spielmann des Mittelalters und den "Nationalsprachhelden und Unternehmer" steht das Model.

"Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken", Heft 705, Februar 2008, 11 Euro, www.online-merkur.de

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