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■ Schöner LebenSchneide, kleine Klinge, schneid'

Ich mache mir große Sorgen um meine Rasierklinge. Sie ist in einem dieser Einweg-Rasierer mit Plastikgriff, aber anders als ihre Artgenossen scheint sie den Weg zum ewigen Leben gefunden zu haben. Denn seit Februar rasiere ich mich nun schon mit ihr – und sie will einfach nicht stumpf werden. Vielleicht liegen bei ihr alle Moleküle so harmonisch aufgereiht, daß kein schnöder Bartstoppel diese Idylle zerstören kann; vielleicht gibt es eine besondere Affinität dieses Metallstreifens zu meiner Biostruktur... Nichts ist unmöglich!

Gleichviel: Inzwischen ist mir die tapfere Klinge ans Herz gewachsen. Bei einigen Reisen hab' ich ihr die Welt gezeigt, und ihre Treue hat mir immerhin ein paar Groschen gespart. Alles wäre schön und gutrasiert, wenn es nicht in der Literatur einen beängstigenden Präzedenzfall gäbe.

In seinem Roman „Die Enden der Parabel“ berichtet Thomas Pynchon vom traurigen Schicksal einer kleinen Glühbirne, die nie durchbrannte. Dieses ewigglühende Fanal wurde bald von verschiedenen Geheimdiensten und Agenten der Herstellerfirma gejagt, entführt und in Schubladen gesperrt. Oft entkam die Dauerbrennerbirne nur knapp dem finalen Fall von der Tischkante. Sie wurde zur Widerstandsheldin aller Glühbirnen der Welt, die Legenden über sie verbreiteten und sie an den unmöglichsten Orten leuchten sahen. Hier wird die ganze Geschichte dann doch etwas unglaubwürdig – so schreibt der Pynchon halt. Aber es bleibt die beunruhigende Tatsache, daß seine Birne im Grunde dassselbe Verhalten zeigt wie meine Rasierklinge.

Für die Hersteller wäre es in der Tat vernichtend, wenn Einwegrasierer plötzlich ewig halten würden. Hat meine Klinge ihren Kolleginnen im Plastikbeutel neben dem Spiegel vielleicht schon das Geheimis ihres langen Lebens zugeflüstert? Dann rechne ich mit dem Schlimmsten. Wann wird in mein Badezimmer eingebrochen? Wann nahen die Häscher der Rasierstahlindustrie, um meine gutgeschliffene Freundin zu entführen? Deshalb gehe ich jetzt an die Öffentlichkeit: Hände weg von meiner Rasierklinge – The whole world is watching!

Wilfried Hippen

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