Schnipsel-Honorarmodell von Amazon: Der Pawlow’sche Autor
Amazon will Schriftsteller künftig pro tatsächlich gelesener Buchseite vergüten. Das könnte auch die Art des Schreibens verändern.
Es ist ein Schritt, nach dem man eigentlich die Uhr hätte stellen können. Seit Jahren analysiert der Online-Buchhändler Amazon, was, wie viel, wann und wie schnell seine Kunden auf den firmeneigenen Kindle-Geräten E-Books lesen. Ab 1. Juli führt Amazon nun die logische Folge dieser Analysen ein: Der Konzern will Autoren künftig nicht mehr pro verkauftem Exemplar vergüten, sondern pro gelesener Seite.
Erst einmal soll das nur für Amazons digitale Leihbibliothek gelten. Und klar ist derzeit nur, dass die Vergütung pro Seite für Schriftsteller gilt, die ihre Werke direkt bei Amazon publizieren: im Programm „Kindle Select“.
Schaut man aber, wie Amazon in anderen Geschäftsfeldern operiert – seine TV-Serien auf Nutzergeschmack zuschneidet, seinen Mitarbeitern in Logistikzentren genau vorschreibt, wie viele Artikel sie pro Stunde zu versenden haben – dann scheint es nur logisch, wenn Amazon das Bezahlen-pro-Seite-Prinzip künftig massiv ausweiten würde.
Läge das doch auch voll im Zeichen unserer Zeit, in der jede unserer Handlungen in noch so kleine Schnipsel zerlegbar ist. Sekundengenaue Abrechnung von Mietautonutzung. Mitschnitte, wo wir auf welchen Webseite klicken oder wohin wir unser Smartphone tragen. Je genauer unser Verhalten und Konsum digital aufgezeichnet und ausgewertet werden kann, desto stärker wird die Tendenz, immer kleinteiliger nach Leistungsprinzip zu kassieren.
Gerechter soll dieses Bezahlsystem sein, sagt Amazon. Nun ja – ungefähr so gerecht, als würde Zalando Schuhhersteller besser bezahlen, je mehr Schritte der Nutzer mit den Schuhen geht. Selbst wenn man den Bildungsbürger-Dünkel nicht teilt, dass bei Massengeschmack nur Unrat herauskommt, könnte Amazons Schritt umkrempeln, wie Autoren Bücher denken.
Hundert Seiten, um erst mal ins Buch reinzukommen, à la „Ulysses“ oder „Verbrechen und Strafe“? Wird umso brotloser, je deutlicher Amazon den Vergütungs-Futtertrog nur füllt, wenn der Leser dranbleibt. Und birgt die Gefahr, dass altbekannte Pageturner-Rezepte überstrapaziert werden: Cliffhanger. Krawall. Überraschende Wendungen. Um keinen schon auf Seite 50 zu verlieren.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Umgang mit nervigen Bannern
Bundesrat billigt neue Regeln für Cookies