: Schnellschuß -betr.: "Feindselig", Leserbrief vom 21.5.94
Betr.: „Feindselig“, Leserbrief, 21.5.94
Nachdem Herr Dr. Ulrich Herbert sich für feindselige Angriffe als qualifiziert durch akademischen Grad und Arbeitsplatz ausgewiesen hat, werde ich mein Bestes tun, lediglich auf einige Widersprüche einzugehen.
Im Rahmen des im Buch beschriebenen Projektes sind eine Vielzahl von Video-Mitschnitten der Interviews gemacht worden, auch von den beiden Autorinnen. Das ist u.a. auch gemacht worden, um für die Arbeit der Gedenkstätten (neue Ausstellung, Arbeit mit Jugendlichen) kurze Filme zu produzieren, ein sehr lobenswerter Ansatz, der schon seit Jahren in Neuengamme praktiziert wird und jetzt zu einer Einladung nach Paris zu einem Internationalen Kongreß über audiovisuelle Medien und Zeitzeugenberichte geführt hat. (...)
Zudem geht Dr. Herbert auch nicht auf das ein, was Bernd Schott tatsächlich kritisiert: Er sagt in seiner Rezension ja letztlich, daß der wissenschaftliche Anspruch der beiden Autorinnen, die Theorie der Oral-History um eine psychologische Dimension zu erweitern, in dieser Form nicht eingelöst wird. Er sagt nicht, daß die Autorinnen unsensibel seien; er sagt auch nicht, daß die Interviews nicht sorgfältig ausgewertet wurden. Insofern schießt Dr. Herbert ins Leere. (...)
Mir ist beim Lesen des Buches die gebetsmühlenartige Wiederholung der Wissenschaftlichkeit der Arbeit sehr sauer aufgestoßen. Ich halte sie schlicht für unwissenschaftlich, was den Anspruch angeht, eine Diskussion über eine Ausweitung von Oral History um eine psychologische Dimension in Gang zu setzen.
7 WissenschaftlerInnen haben die erwähnten 121 Interviews durchgeführt; ausgewertet anscheinend nur die der beiden Autorinnen, eine eklatante Vernachlässigung wissenschaftlichen Materials für die Auswertung. Das ist bei psychologischen Fragestellungen um so bedauerlicher, als eben Alters- und Geschlechterunterschiede bei den Interviews besonders bedeutsam sein könnten.
Das vorhandene Videomaterial wird überhaupt nicht erwähnt, obwohl gerade dieses Material vielfältigen Aufschluß für psychologische Fragestellungen gibt. Dies ist zudem überhaupt nicht mehr nachvollziehbar, wenn man in dem Buch liest, wie sehr die Autorinnen bedauern, sich nur auf Tonbandinterviews beziehen zu können.
Die Ausführungen der Autorinnen in dem Buch über psychologische Aspekte der Interviews gehen meist nicht über das Grundwissen jedes Journalisten zur Interviewtechnik hinaus.
Wirklich peinlich finde ich an diesem die Aussage der Autorinnen, daß sie erst nach einer Zeit erkannt hätten, daß ihr leichtes „Überlegenheitsgefühl“ gegenüber den „traumatisierten Häftlingen“ nicht gerechtfertigt gewesen sei. Wenn ich dann noch lese, daß die Autorinnen in den Vernichtungslagern des Faschismus eine „pathogene (krankmachende) Situation“ sehen, oder daß die Autorinnen die Frage stellen, ob sie als „Nachkommen der Tätergeneration“ Häftlinge trösten dürfen, dann wird für mich die Grenze zwischen Sensibilität und Aufarbeiten eigener Schuldgefühle nicht mehr eindeutig erkennbar.
Spätestens dort verlieren die Autorinnen die Wissenschaftlichkeit der Arbeit aus den Augen. Bei einer fundierten wissenschaftlichen Arbeit hätten die Autorinnen an dieser Stelle die Diskussion mit den anderen beteiligten WissenschaftlerInnen suchen und in die Arbeit einbeziehen müssen.
Alles in allem erscheint mir das Buch ein Schnellschuß, der aus der Sicht der Wissenschaft nach hinten losgeht.
Ralf Clasen
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