: „Schnell, lauf schnell“: Berichte von Flucht und Tod
■ Kurdische Flüchtlinge im Iran schildern ihre Erlebnisse/ Familien wurden auseinandergerissen, Kinder starben, andere wurden von Minen zerrissen/ Keine Nachricht von vermißten Familienangehörigen
Die folgenden Gespräche mit kurdischen Flüchtlingen aus dem Irak wurden in Piranshar und Baneh im Iran nahe der Grenze geführt. Die Flüchtlinge stammen aus der Stadt Sulaymaniya und Umgebung.
Fluchtgeschichte einer Mutter: Meine Kinder schliefen, ich war besorgt über das Schicksal ihres Vaters, der seit zwei Tagen nicht mehr nach Hause gekommen war. Ich fürchtete, meine Kinder seien nun zu Waisen geworden. Es war ein Uhr nachts. Ich war wach und weinte leise, als ich jemanden rufen hörte: „Die Klaries sind geflohen!“ Klar heißt die Stadt nahe unserem Dorf. Die Nachbarn liefen alle auf die Straße, jemand sagte: „Das Nachbardorf ist von Soldaten angegriffen worden, alle sind geflohen.“ Ich konnte nichts sagen, wir alle waren verängstigt, einige sagten: „Wir gehen in Richtung Grenze“, andere fragten: „Wohin? Sie werden uns doch nicht aufnehmen.“ Wieder andere sagten: „Wenn wir nicht gehen, werden wir umgebracht.“ Die Männer sagten zu uns Frauen: „Ihr müßt sofort aufbrechen.“ Aber mein Mann war immer noch nicht zurückgekehrt. Ich wußte nicht, ob ich bleiben oder gehen sollte. Nach zwei Stunden sind wir mit dem Traktor eines Nachbarn losgefahren. Er war voller Menschen. Es war immernoch dunkel, windig, und es schneite. Ich dachte an meinen Mann. Es war ein langer Weg. Am Abend des nächsten Tages erreichten wir die Grenze. Als ich vom Traktor abstieg, vermißte ich meine zwei Kinder. Sie sind immer noch verschwunden.
Eine Frau berichtet von ihrer Entbindung:
Unterwegs wurden die Wehen immer stärker. Es war nicht auszuhalten. Nur mein Bruder und mein Sohn waren bei mir. Unter einem Baum stieg ich vom Maulesel ab, ich weinte und schämte mich, ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich schickte meinen Sohn los, damit er eine Frau holt. Mein Bruder suchte eine Hebamme, aber wo sollten wir in diesem Gebirge eine Hebamme finden? Ich flehte Gott an, daß eine Frau vorbeikommt.
Ich hatte meine Hoffnung aufgegeben, ich dachte, ich würde sterben. Ich schwitzte und trotzdem war mir kalt. Ich zitterte und die Schmerzen wurden immer stärker. Als eine Stunde später mein Bruder mit einer vierköpfigen Familie zurückkam, hatte ich meine Tochter zur Welt gebracht. Doch sie war tot. Unter dem selben Baum habe ich sie begraben.
Ein Mann über die Geschichte seiner Flucht:
Wir sind zu Fuß losmarschiert, nur einen Sack Brot und einen Eimer Wasser nahmen wir mit. Den Weg kannten wir nicht. Als wir auf die Berge gestiegen waren und einen steinigen Weg gefunden hatten, trafen wir viele Männer und Frauen aus den Nachbardörfern. Meine kleine Tochter war ungehalten und unruhig, sie fragte mich dauern, wohin wir gingen. Ich antwortete, zu einem neuen Haus. Ich wußte selbst nicht, wohin wir gingen.
Unser Säugling weinte ununterbrochen. Wegen der Kämpfe in Kirkuk und Sulaymaniaya hatten wir schon seit Tagen kein Milchpulver mehr. Meine Frau hatte keine Milch, und ich fragte die anderen Flüchtlinge vergeblich danach. Niemand konnte uns helfen. Alle waren in Eile aufgebrochen, ohne etwas mitzunehmen. Wir hatten die Grenze noch nicht erreicht, als unser Baby in den Armen seiner Mutter starb.
Geschichte eines Fünfzehnjährigen:
Ich war mit meinem Vater losgegangen. Er sagte unterwegs dauernd zu mir, schnell, lauf schnell. Ich war aber müde, vom frühen Morgen bis zum Abend waren wir unterwegs, meine Schuhe waren kaputt, mein einer Fuß blutete. Mein Vater wollte, daß wir nicht hinter der Menschenkarawane zurückbleiben. Er hatte Angst, daß die Armee uns angreift. Am Vortag hatten die Soldaten unser Nachbardorf angegriffen und 150 Leute umgebracht. Alle hatten Angst vor den Hubschraubern. Immer, wenn wir etwas hörten, legten wir uns sofort auf den Boden.
Meine Mutter war weiter vorne, sie ging viel schneller, obwohl sie keine Schuhe hatte. Ich versuchte, sie zu erreichen. Nachdem wir das Zorkh-Tal passiert hatten, hörten wir heftige Explosionen. Wir dachten, die Hubschrauber seien gekommen. Jeder versuchte, sich irgendwo zu verstecken. Ich kroch hinter einen großen Stein. Nach einigen Minuten sah ich die Frauen weinen und schreien und die Männer laut rufen. Ich rannte nach vorne und schrie: Vater! Vater! Aber von meinen Eltern war nichts zu sehen. Als ich zu der Menge stieß, sah ich, daß die Menschen auf dem Boden saßen und auf zig Personen schauten, die leblos in der Mitte lagen.
Ich fragte, was passiert sei, und eine Frau sagte: „Siehst du nicht, daß sie in die Minen gelaufen sind?“ Ich war außer mir, rief nach meinem Vater und lief zu dem Minenfeld. Zwei, drei Leute hinderten mich daran. Jetzt weiß ich nicht, wo meine Eltern sind. Ali Sadrzadeh
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