: Schnee von heute
WINTERREISE In Rune Denstad Langlos Spielfilm „Nord“ zieht ein depressiver Held mit Ski und Schneemobil durch Norwegen
VON ANDREAS RESCH
Es gibt Filme, in denen Landschaften mehr sind als nur Landschaften, nämlich gleichzeitig Abbilder des Seelenzustands ihres Protagonisten. „Nord“ von Rune Denstad Langlo ist solch ein Film. Wenn sich Jomar Henriksen (Anders Baasmo Christiansen) – zunächst auf einem Schneemobil, später auf Skiern – mit einem Fünfliterkanister Schnaps im Gepäck durch eisige norwegische Schneelandschaften arbeitet, immer weiter gen Norden, beginnt man sofort die Verlorenheit zu spüren, die den emotional fragilen einstigen Skihelden vor Jahren in Angstzustände und Depressionen getrieben hat.
Langsam, und darin den ruhigen, von vielen Totalen geprägten Bildern dieses Films entsprechend, in dem blendend helle Außenaufnahmen und düstere Innenaufnahmen einander abwechseln, entblättert sich im Verlauf von Jomars Reise dessen Geschichte.
Man erfährt von seinem Skiunfall, der anschließenden Unfähigkeit, zurück ins Leben zu finden, von der Trennung von seiner Freundin Linnea, von deren Schwangerschaft und ihrer anschließenden Beziehung zu Jomars bestem Freund Lasse (Kyrre Hellum). Ebenso langsam, Stück für Stück, gelingt es Jomar, sich von den Lasten der Vergangenheit zu befreien, die ihn erst in die Psychiatrie, später in eine perspektivlose Tätigkeit als ständig betrunkener Skiliftbetreuer gezwungen haben. Es sind drei Begegnungen in diesem traurig-komischen Road-Movie-Stationendrama, die aus ihm schließlich jenen Menschen machen, der in der Lage ist, sich der vierten, entscheidenden Begegnung zu stellen.
Die erste ist die mit dem Mädchen Lotte (Marte Aunemo), die den schneeblind gewordenen Jomar findet, rettet und zu sich nach Hause mitnimmt. Mit ihrem ständigen kindlichen Gefrage nach Lieblingsfarbe, Lieblingsband oder Lieblingsgetränk zwingt sie den in einer dunklen Kammer hinter Lottes Zimmer vor sich hin vegetierenden und von seiner Schneeblindheit zur Bewegungsunfähigkeit verdammten Jomar, sich endlich mit sich selbst zu beschäftigen, und es entwickelt sich bald eine zarte Freundschaft zwischen den beiden.
Fatale Begegnungen
Doch schon bald muss Jomar weiterziehen, um einem einsamen jungen Mann, Ulrik (Mads Sjogard Pettersen), und einem noch einsameren alten Mann, Ailo (Lars Olsen), zu begegnen.
In „Nord“ wimmelt es nur so vor skurrilen Einfällen, die jedoch angenehm unaufdringlich, eher beiläufig daherkommen, weil sie nie auf Pointe geschrieben und inszeniert sind.
Etwa wenn Jomar mehrmals versehentlich die Holzhütte, in der er gerade übernachtet, niederbrennt, oder wenn er gemeinsam mit Ulrik betrunken wird, indem die beiden einander erst die Schädel rasieren, dann warmrubbeln und schließlich einen Tampon mit hochprozentigem Schnaps auf der kahlrasierten Stelle platzieren.
Zudem wird man Zeuge des wohl absurdesten Selbstmords in der Filmgeschichte, in dem es Ailo in einer perfekt inszenierten Choreografie, in der ein Loch im Eis, ein Schneemobil und ein Bett eine Rolle spielen, glückt, elegant für immer aus dem Leben zu scheiden.
Nicht nur in dieser Szene offenbart Langlos Humor eine Nähe zu dem der Coen-Brüder. Bevor er sich auf derart furiose Weise verabschiedet hat, ist es Ailo allerdings noch gelungen, Jomar für die vierte, letzte, entscheidende Begegnung zu präparieren.
■ „Nord“. Regie: Rune Denstad Langlo. Mit Anders Baasmo Christiansen, Kyrre Hellum u. a., Norwegen 2008, 78 Min.