Schnecken und ihre Häuser: Tierische Nomaden
Es gibt Tiere, die ihr Haus mit sich herumtragen. Aber sind das Immobilien? Oder ist alles ein Missverständnis, weil der Mensch Tiere benennt, aber nicht versteht?
Der Mensch, der nach Walter Benjamin der Herrscher der Natur ist, weil er der Benennende ist, derjenige, der den Dingen Namen gibt, schreibt den Schnecken vor allem Langsamkeit zu. Langsam ziehen sie sich mit ihrem muskulösen Fuß über einer selbst erzeugten Schleimspur an einem Schilfrohr, einer Mauer weiter in Richtung Versteck oder zum Futter.
Langsam können sie sein, heißt es in der für Kausalitäten empfänglichen Sprache der Biologen, weil ihnen ihr Futter nicht wegläuft. Pflanzen, Aas oder festgewachsene Tiere fliehen nicht vor ihren Räubern. Und vor Feinden müssten sich Schnecken kaum fürchten, weil sie sich in ihr Gehäuse zurückziehen können.
Letzteres ist eine Behauptung, die man kaum noch glauben kann, wenn man einmal einer Schneckenweihe, einem Greifvogel, beim Aufhebeln von Schneckenhäusern zugesehen hat. Die Schneckenweihe hat sich in den Mangrovenwäldern und Flusssümpfen Costa Ricas und Panamas auf den Verzehr von Wassergehäuseschnecken spezialisiert.
Außerdem tragen nicht alle Schnecken ein Gehäuse, manche bleiben nackt. Aber trotz dieser Unsicherheiten ist es eine Tatsache, dass es Schnecken gibt, die Gehäuse tragen, die sie selbst aus ihren Stoffwechselprodukten hervorbringen – es sind tierische Nomaden. In ihre Häuser können sie sich bei widrigen Bedingungen zurückziehen und sich etwa vor Austrocknung schützen.
Schneckenhäuser bleiben selten lange unbewohnt
Diese und viele andere spannende Geschichten lesen Sie in der sonntaz vom 22./23. Dezember. Diese letzte Ausgabe vor Weihnachten hat sich die Herberge vorgenommen. Wo Herberge ist, ist Wärme, ist Geborgenheit, ist Schutz vor dem, was draußen unheimlich ist und frieren lässt. Gut, wenn man eine hat. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und für Fans und Freunde: facebook.com/sonntaz.
Schnecken werden durch ihre Häuser nicht an der Mobilität gehindert: Schneckenhäuser sind keine Immobilien, und diesen Unterschied sollte man im Auge behalten. Denn auch wenn der weiche Schneckenkörper im Haus gestorben ist, bleiben die so immobil gewordenen Gehäuse nur dann bewegungslos, wenn sie in einer naturkundlichen Sammlung oder auf einem privaten Kamin verstauben.
An Land oder im Meer bleiben Schneckenhäuser selten lange unbewohnt. Es gibt mit den Einsiedlerkrebsen eine große Gruppe mit maritimen und landlebenden Formen, die auf die Schneckenhäuser angewiesen ist, um ihren weichen und dadurch ungeschützten Hinterleib zu umhüllen.
Zur Immobilität sind die Krebse aber auch dann nicht verdammt, wenn sie ein Schneckenhaus gefunden und für ihren Körper passgerecht bearbeitet haben. Im Gegenteil. Da die Krebse, wenn sie wachsen, größere Schneckenhäuser brauchen, sind sie nachts nicht nur wegen der Futtersuche unterwegs, sondern auch weil sie besser passende Schneckenhäuser suchen. Dabei kann es zu Ereignissen kommen, die ihren Namen absurd erscheinen lassen.
Einsiedlerkrebse hatte man sie genannt, weil man glaubte, sie lebten als Einzelgänger. Dass dem nicht so ist, haben jetzt Biologen der Universität von Kalifornien in Berkeley in der aktuellen Ausgabe des Fachblatts Current Biology berichtet. An den Stränden Costa Ricas versammeln sich Einsiedlerkrebse in großen Gruppen zu – wie es bis jetzt aussieht – keinem anderen Zweck, als ihre Häuser in der richtigen Größe auszutauschen.
Die Gemeine Pantoffelschnecke
Biologen sehen darin eine Form des Sozialverhaltens, die für allein lebende Tiere ungewöhnlich ist, wie sie schreiben. Man kann daraus aber auch auf ein generelles Problem der Sprache schließen, mit der man es nicht schafft, dem Leben der Schnecken und Krebse gerecht zu werden.
Dass die Sprache das Wesen der Tiere nicht erfasst, lässt sich auch am Fall der Gemeinen Pantoffelschnecke, Crepidula fornicata, zeigen. Die ursprünglich an den Küsten der USA und Mexikos vorkommende marine Gehäuseschnecke wurde um 1870 nach Europa eingeschleppt und ist hier seither weit verbreitet.
Pantoffelschnecken bilden am Boden schlammiger Gewässer regelrechte Schneckenstapel. Dabei sitzen bis zu sechzehn Tiere aufeinander, die größeren unten und die kleineren oben. Die oben sind die Männchen und die unten die Weibchen, während sich in der Mitte Tiere befinden, die gerade im Übergang vom männlichen zum weiblichen Tier begriffen sind.
Befruchtung von oben nach unten
Die Befruchtung der Weibchen findet von oben nach unten statt. Das funktioniert, weil der Penis der kleinen Männchen länger als ihr Körper ist und ohne Probleme über ein paar Männchen und die „neutralen“ Tiere in der Mitte hinweg die Weibchen unten erreichen kann. Was aber wie ein geordneter Geschlechterstapel aussieht, ist bei näherem Hinsehen in Bewegung, nicht nur zwischen den Geschlechtern, sondern auch innerhalb eines gerade betrachteten Geschlechts.
Das Gründungstier, das das Fundament auf felsigem Grund legt, wird mit dem Gründungsakt automatisch ein Weibchen. Irgendwie ist es dann in der Lage, Schneckenlarven anzuziehen, die sich auf ihm niederlassen und zu Männchen werden. Werden die kleineren Männchen größer, wandeln sie sich langsam über ein neutrales Stadium in Weibchen um.
Dieses als sequentieller Hermaphroditismus bezeichnete Phänomen verweist außer auf die Wandelbarkeit des Sexes noch auf eine andere, in der Natur oft zu beobachtende Tatsache: Die Weibchen sind bei vielen Tieren – anders als bei Menschen – größer als die Männchen. Das ist männlichen Menschen nicht immer geheuer, wie man am Namen der Crepidula fornicata sehen kann. Der wissenschaftliche Name der Pantoffelschnecke stammt von Carl von Linné. Das lateinische fornix, das „Bogen“ bedeutet, wählte Linné, um auf den gewölbten Umriss der Schale zu verweisen. Das Wort konnotiert aber auch mit dem sexuellen Geschehen im Schneckenstapel.
Wie der Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould herausfand, stellt fornix auch eine Beziehung zwischen Gewölben und Sexualität her: „[…] weil die Römer in den unterirdischen Teilen großer Gebäude gewölbtes Mauerwerk verwendeten und weil die Armen wie die Prostituierten Roms in diesen unterirdischen Gewölben lebten […], bezeichneten frühchristliche Autoren mit dem Verb fornicari den Besuch von Bordellen“, schreibt er.
Crepidula fornicata imitieren aber mitnichten ein Bordell, vielmehr existieren sie mit ihrem wandelbaren Geschlecht in einer Realität, von der Menschen bisher nur träumen können. Man sollte also, kann man schließen, die Tiere nicht mit den Namen verwechseln, die sie sich nicht selbst gegeben haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Mangelnde Wirtschaftlichkeit
Pumpspeicher kommt doch nicht