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Schlimmfinger

■ betr.: "Stolpernder Aussteiger?" Kommentar von Götz Aly, taz vom 22.10.90

„Stolpernder Aussteiger?“ Kommentar von Götz Aly, taz vom 22.10.90

(...) Jetzt, durch die Aussagen von in der DDR Gegriffenen, kommt ihnen langsam, Boock war vielleicht auch einer der echten Schlimmfinger. Der Einsturz des Doms war abzusehen. Im Juni, (...) schob Boock blitzschnell (über 'Spiegel‘- und taz-Interviews) der Albrecht eine Verteidigungslinie rüber, entlang der sie dealen könnte, ohne über ihn zu reden. Die Linie natürlich, wie seine gesamte Produktion seit 10 Jahren, wieder auf Kosten der RAF, auf Kosten der historischen Wahrheit.

(...)An der Stelle mal und nebenbei gesagt: Boocks letzten sympathischen Zug fand ich noch manchmal darin, wie er sich nicht scheute, die schönen Seelen mit ihren eigenen Vorurteilen über Subversion und Untergrund satt zu füttern und damit nicht wenig einflußreiches Pack in seinen Plan, aus dem Knast zu entkommen, einknüpfte. Es ist aber ein Plan der Eigensucht und politischen Denunziation seit dem ersten Tag, und darin verdirbt und stirbt schließlich alles.

Aly also gibt sich und die „öffentliche Solidarität“ um Boock als betrogene aus. Aber so war die Beziehung nie. Lügen waren in ihr immer konstituierendes Teil — genau eben die Geschichten Boocks, die der Denunziation der RAF dienten. Für seine große Effektivität in dem Job wurden alle Widersprüche geschenkt, die ja spätestens seit 2 Jahren, nach der Erklärung in 'Konkret‘, breit öffentlich waren. Dort haben wir zusammengefaßt, Boocks Gemeinde ist nicht Opfer seiner Lügen, es ist ein Arrangement, ein gegenseitiges Geschäft und dessen Währung Schmutz und Denunzierung des RAF-Aufbruchs.

Die Falle für die Boock-Inszenierung ist jetzt geworden, daß einerseits ihr aufwendig gefaltetes Gewand zerrissen ist, andererseits die BAW Boock weiterhin im Knast am nützlichsten findet: sowohl wegen des Zwangs dort für ihn, für die Begnadigung kontinuierlich und effektiv weiter propagandistische Auftritte gegen die RAF zu bringen, als auch, weil sie natürlich schließich doch noch vieles von ihm hören wollen — was die in der DDR Gegriffenen nicht bringen, weil sie nur wenig Wichtiges wissen.

Aly fordert die „Wahrheit über den deutschen Herbst 1977 doch noch ans Licht“ — doch noch! Als ob die Boock-Gemeinde im weiteren Sinn, d.h. viele heute integriert funktionierende 68er, das auf einer politisch-faktischen Ebene (die wichtigere! weil die Infos, wer in welchen Aktionen war, unwesentliche sind) je wollte. Für die Aufklärung fallen Aly „entsprechende Strafverfahren“ ein. Er meint also weiter nur die „Wahrheit“ von Gebrochenen und Umgekehrten, die „Wahrheit“ der Krisenstabführer, das Prozeß-Szenario, das ja gerade auch vorbereitet wird.

Das Terrain der deutschen Justiz — darauf gerade ein Blitz: Einer der die PDS-Razzia in Berlin leitenden Polizisten meinte: „50 Jahre Zurückhaltung sind genug.“ Das ist ein Schlüssel für die Bewegung des neuen Großdeutschland. Und die kämpfenden Gefangenen spüren sie als welche der ersten. Das Angehörigen-Info berichtet Einzelheiten, auch die Revolten sprechen davon.

Nach Alys Idee hat das jetzt Folgende natürlich keinen Bezug mehr zu seinem Kommentar. Aber ich nutze die Stelle, die materiellen Bedingungen für Wahrheit zu erklären. Es ist die freie Artikulation endlich der Gefangenen, die weiter kämpfen. 10 und mehr Jahre flächendeckend lancierte Interviews, Lebensbeichten und sonstiges von Reuigen haben nichts anderes hervorgebracht und bewirkt als die Korrumpierung der sich daran Entlanghangelnden Szene. Die Korrumpierung, aus der raus Alys Mahnung an Boock auch nur glatte Heuchelei ist.

Anstatt Wahrheit auf dem Terrain einer 50-Jahre-Zurückhaltung-sind- genug-Justiz zu suchen, muß genau diese Kontinuität zerbrochen werden, und muß das Monopol der Staatsmedien aufgebrochen werden, um den Raum für öffentliche, aufrichtige politische Auseinandersetzung, dabei ums vergangene für eine starke Zukunft, aufzumachen. Die kämpfenden Gefangenen brauchen dafür die kollektiven Bedingungen der Zusammenlegung, die Abschaffung der Zensur und die Kommunikation mit vielen draußen. Christian Klar

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