Schleyer-Entführung: Wie der rettende Hinweis verloren ging
Am 5.9.1977 entführte die RAF Arbeitgeberpräsident Schleyer. Tage später fand der Beamte Schmitt das Versteck. Aber niemand wollte auf ihn hören.
Im Wohnzimmer von Ferdinand Schmitt könnte man glauben, der Deutsche Herbst von 1977 hätte um ein Haar gar nicht stattgefunden. Der 77-Jährige mit dem weißen lichten Haar hat seine Arme über dem Bauch verschränkt. Eine Wanduhr tickt. Von den Wänden schauen Kinderporträts der letzten 40 Jahre herab auf den runden Tisch. Schmitt spricht mit einer sonoren Stimme. Vielleicht hätte es keiner Helden von Mogadischu bedurft. Vielleicht hätten Hanns Martin Schleyer, Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Jan Carl Raspe und viele der anderen Toten des Deutschen Herbstes nicht sterben müssen. Ferdinand Schmitt benutzt den Konjunktiv. Wenn seine Meldung an die übergeordnete Dienststelle wahrgenommen worden wäre, hätte die Geschichte des Jahres 1977 anders geschrieben werden müssen. Ja, wenn.
Am 5. September wurde der damalige Arbeitgeberpräsident Schleyer von Mitgliedern der RAF in Köln entführt. Kurz darauf ging an alle Polizeidienststellen der Region die Aufforderung, in sogenannten Großwohnanlagen nach verdächtigen Personen zu suchen. Auch der Bezirks- und Ermittlungsbeamte Schmitt machte sich auf den Weg. Er war für das Hochhaus Am Renngraben 8 in Erftstadt-Liblar, einer Trabantensiedlung nahe der Domstadt, zuständig. Vor der Eingangstür traf der Polizist am 7. September den Hausmeister, der gerade den Bürgersteig fegte. Der sprach ihn an: "Herr Schmitt, was machen Sie schon wieder hier?" Der Polizeibeamte, sicher damals schon ein eher gemütlicher Typ, erwiderte: "Ich such den Schleyer." Der Hausmeister schickte ihn zu seiner Schwiegermutter. Diese mache für die Hausverwaltung immer die Vormietverträge, vielleicht wisse die etwas, sagte er dem Polizisten. Der alten Dame, die schräg gegenüber wohnte, war tatsächlich etwas aufgefallen. Vor kurzer Zeit sei eine junge Frau bei ihr gewesen, sie habe eine Wohnung gemietet, wollte die Kaution gleich in bar bezahlen, hatte Geldscheinbündel in ihrer Handtasche. Mit einem Umzugswagen sei sie aber später nicht gekommen. Schmitt wollte den Namen der Frau wissen, doch den kannte die alte Dame nicht. So rief er bei dem Hausverwalter an. "Datenschutz geht vor allem", sagte dieser. "Dann bei mir auch", konterte Schmitt. "Wenn Sie mal wieder eine Auskunft über jemanden haben wollen "
Prompt bekam Schmitt den Namen der neuen Mieterin: Annerose Lottmann-Bücklers. All die Informationen schrieb sich der Polizeibeamte in sein Notizbuch. Später auf der Wache wurde ein Fernschreiben an die übergeordnete Behörde verfasst, in der dies weitergegeben werden sollte. Doch jenes Fernschreiben wurde dort nie zur Kenntnis genommen, wurde zumindest nie der Sonderkomission vorgelegt. Dabei hätte der Name der Mieterin schon gereicht, die Fahnder zu alarmieren. Die Frau war als Beschafferin von Ausweisen für die RAF behördlich bekannt.
"Das war nicht so wie heute, mit Computer", erklärt Schmitt. "Wir benutzten einen Fernschreiber aus Wehrmachtszeiten." Aber nicht die Technik macht Schmitt für die folgenschwere Ermittlungspanne verantwortlich. Es war seiner Meinung nach die Arroganz der Vorgesetzten, die eine Befreiung von Schleyer verhinderte. Sehr glaubwürdig spielt der Pensionär die Situation von damals nach. Aus dem runden Gesicht von Ferdinand Schmitt verschwindet das Lächeln. Eine Augenbraue hebt er an, die Mundwinkel zieht er nach unten und mimt so einen seiner damaligen Vorgesetzten. Aus dem gemütlichen Rheinländer wird für wenige Sekunden ein preußischer Beamter. "Die Meldung vom Schmitt? Nicht relevant!" Dazu streicht Schmitt mit dem Handrücken über die Tischdecke, als wolle er darauf liegende Krümel wegwischen. Natürlich habe er diese Bemerkung nicht selbst gehört. Aber jenes Geschehen wurde ihm von seinem Vorgesetzten so erzählt. "Aus der Kaiserzeit hat man mitgeschleppt, dass nur der etwas zu sagen hat, der den höheren Dienstgrad hat", resümiert Schmitt.
Er selbst war kein gehorsamer Beamter. Obwohl ihm sein Dienststellenleiter dies verbot, verkleidete sich der Polizist als Zeitschriftenwerber, klingelte an der verdächtigen Wohnung. Niemand öffnete. Peter-Jürgen Boock, einer der Schleyer-Entführer, habe in Fernsehsendungen später des Öfteren von dieser Situation berichtet, erzählt Schmitt. Tatsächlich war zu jener Zeit der Arbeitgeberpräsident in der Wohnung versteckt. Die Terroristen hatten ihn in einen mit Schaumstoffmatten ausgekleideten Schrank gesperrt.
Keine verdächtigen Geräusche waren an der Wohnungstür zu hören. Doch Ferdinand Schmitt wollte nicht einfach aufgeben. "Man hätte denen Strom und Wasser abdrehen können. Dann wäre schon jemand rausgekommen", ärgert er sich noch heute. Doch seine Vorgesetzten verboten ihm weiteres eigenmächtiges Vorgehen. Wenn "von oben" keine Weisung komme, dürfe man auch nichts unternehmen, so die damalige Begründung.
Später, als klar wurde, dass man Schleyer hätte befreien können, war der Skandal groß. Bundes- und Landesbehörden schoben sich den Schwarzen Peter zu. Als eine Untersuchungskommission, die die Polizeipanne aufklären sollte, nach Erftstadt kam, schickte man Schmitt kurzerhand in Urlaub. Zu groß war die Angst mancher Vorgesetzter, dass der kleine Dorfpolizist Unangenehmes zu berichten habe, erklärt sich der alte Mann dieses Vorgehen heute. "Man wollte mich aus dem Verkehr ziehen." Tatsächlich wurde nie restlos aufgeklärt, warum der Hinweis des Beamten nicht zu den Terrorfahndern gelangte. In Erftstadt wurde Schmitt sogar verdächtigt, eine Mitschuld an der Ermordung von Schleyer zu tragen. Der Verwalter vom Renngraben 8 sprach kurz nach dem Mord an Schleyer den Polizisten an: "Sie sind noch nicht hinter Gittern?" Mühsam zieht Ferdinand Schmitt ein Schreiben des Schutzpolizeidirektors des Kreises Bergheim aus einem Aktenordner. "Sehr geehrter, lieber Kollege Schmitt, ich teile Ihre Entrüstung und Empörung über solche Äußerungen, weil nach meinen Kenntnissen gerade Ihre sorgfältige und gründliche Ermittlungsarbeit den Ermittlungsbehörden Anlass zum Tätigwerden hätte geben müssen."
Trotz dieses Behördenschreibens grollt der alte Mann. Bei irgendeiner Gedenkveranstaltung zum Deutschen Herbst habe man ihn nach Köln eingeladen. Viele Reden wurden gehalten, von hohen Polizeivertretern, Politikern, Beamten aus den Ministerien. Hans Wischnewski sei, schon schwer krank, in den Saal getragen worden. "Ben Wisch, der Held von Mogadischu", spottet Schmitt und macht dabei wieder sein preußisches Gesicht. Fast sieht es aus, als trüge er ein Monokel. "Ewig musste ich mir das Gelaber anhören." Er selbst sollte auch eine Rede halten. Doch nach all den Jahren stand ihm danach nicht der Sinn. "Meine Frau und ich, wir haben je ein Mineralwasser umsonst bekommen, das war doch ausreichend." Dabei schmunzelt der ehemalige Polizist, schüttelt seinen Kopf.
Die Mächtigen dieser Welt sind ihm sowieso suspekt. "Überall dort, wo sich die Amerikaner einmischen, gibt es Krieg. Korea, Vietnam, Afghanistan, Irak." Und früher die Deutschen, über 50 Millionen Menschen seien in deren Krieg getötet worden. Je mehr sich Schmitt in Rage redet, desto weniger unterscheiden sich seine Gedanken von denen eines RAF-Sympathisanten. "Das waren keine dummen Leute", sagt Schmitt. Aber der pensionierte Polizist taugt nicht zum eiskalten Stadtguerillero. Zum Abschied sagt er: "Fahren Sie vorsichtig. Kommen Sie gut heim."
Jetzt, 30 Jahre nach der Schleyer-Entführung, zieht den Ruheständler nichts mehr nach Lieblar zum Renngraben 8. Lieber bleibt er in seinem Häuschen in dem kleinen, alten rheinischen Dörfchen. Doch auch ohne Zeitzeugen ist der Betonklotz noch immer beeindruckend. 15 Stockwerke ragen in den Himmel. 120 Klingelknöpfe säumen das Potal. Eine Videokamera überwacht den Eingangsbereich. Die automatische Schiebetür öffnet nur Bewohnern. Wer mit dem Aufzug fahren will, benötigt einen Schlüssel. Wie mögen diejenigen, die hier wohnen, Besuch bekommen? Es klingt zynisch. Aber dass von der RAF so genannte Volksgefängnis in der Wohnung 104 des Hauses Renngraben 8 ähnelt architektonisch frappierend dem Hochsicherheitstrakt in Stuttgart-Stammheim. Dass Staat wie Terroristen für ihre Gefängnisse diese tendenziell gewalttätige Architektur verwendeten, mag kein Zufall sein. Aber vielleicht ist diese bleierne Zeit wirklich nur noch Geschichte, hat die Freundlichkeit letztendlich doch gewonnen. Während man überlegt, Stammheim abzureißen, will man den Renngraben 8 zumindest verschönern. Helle Holzverkleidungen sollen die dunklen braunen Fliesen der langen Flure überdecken.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
SPD im Vorwahlkampf
Warten auf Herrn Merz
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern