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■ SchlaglochDie Kunst der Versoßung Von Christiane Grefe

We ain't no delinquents, we're misunderstood – Deep down inside us there is good“ Die Halbstarken in der „West Side Story“

Der Junge „warf sich über ihn und prügelte drauflos... drehte den rechten Arm langsam und unerbittlich um... drückte den Gegner mit dem Gesicht tief in den Schnee... Die Luft wurde ihm knapp... Das linke Auge war geschwollen... Die Realschüler jaulten vor Begeisterung!“ Sadistisch. Brutal. Pausenhofalltag 1998.

Von wegen: Seitenlang ist die Keilerei in Erich Kästners „fliegenden Klassenzimmer“ ausgemalt. Schlicht „verteidigungsunfähig“ wollen die Raufbolde den jeweils anderen dreschen. Das galt in den 30er Jahren als legitime Konfliktlösungsstrategie. In meiner Kindheit der 60er Jahre schon nicht mehr so ungebrochen und dennoch: „Bis er blau ist!“ brüllten die Kumpels, während sie den dünnen Helmut vermöbelten. Max griff, in der Scheunenecke von schmerzhaftem Cox-Orange- Trommelfeuer malträtiert, nach der Axt; zum Glück ging sein Wurf daneben. Und Thomas, der Stotterer, zog nie ohne seine „A-A-Aisenstange“ los. Soviel zum Thema „früher war alles besser“: Kinder behaupten sich untereinander in Machtkämpfen und reagieren ihre Frustrationen grausam aneinander ab. Leider. Wie schnell man die Höllenqualen der ach so glücklichen Jahre vergißt, auch das hat Kästner beschrieben: „Die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut.“

Das soll nicht verharmlosen, aber doch in Proportionen setzen, was gerade mal wieder süffige Schlagzeilen bietet: die Gewalt- „Welle“ unter Kindern. „Faustrecht macht Schule“ – damit weckt Focus garantiert Leser-Empörungslust. Marion Gräfin Dönhoff haut hochdramatisch verallgemeinernd in die Tasten: „Der Tod eines Menschen scheint seine Schrecken verloren zu haben.“ Und der Spiegel sucht gleich „die Killerformel“ – die er natürlich nicht findet, also bleibt nur „Das Böse“, das aus jedem Raufbold ein „Schreckenskind“ machen kann.

Dabei steht die These von der Zunahme der Gewalt auf wackligen Fakten-Fakten-Füßen. Einzelfälle verletzter oder verwahrloster Kinderseelen wie des 13jährigen Hamburger „Oma-Mörders“ etwa gab es schon immer; zugenommen hat vor allem die mediale Ausschlachtung ihrer Taten. Und bei allen anderen Delikten – Raub, Erpressung, Körperverletzung – fußen die Aussagen über ihren Anstieg in erster Linie auf der polizeilichen Tatverdächtigenstatistik, die aber keineswegs die Realität spiegeln muß: eine sensibilisierte Wahrnehmung kann mehr Anzeigen hervorbringen, oder neue Polizeistrategien holen ans Licht, was in den Zahlenkolonnen zuvor nicht aufgetaucht wäre. Es ist also möglich, daß Kriminalität unter Kindern noch weiter verbreitet – aber ebenso gut, daß sie bloß deutlicher sichtbar geworden ist.

Die Schuldigen für einen diffusen Befund sind dennoch flott ausgemacht: die Antiautoritären zum Beispiel, obwohl Studien selbst aus dem Familienministerium anderes belegen. Und natürlich die Fernsehgewalt – dabei zeigen auch da viele Forscher Skepsis. Denn Kinder um die 12, 14 Jahre sind Bildern keineswegs nur ausgeliefert; sie sind längst auch Mediensubjekte, die sich ihre eigenen Wirklichkeiten und (Be-)Deutungen konstruieren. Allerdings vielleicht andere als die Erwachsenen: Die Idee etwa, daß auch ihre „Monsterkinder“-Storys Rückkoppelungseffekte haben könnten, ist deren Produzenten offenbar noch nicht gekommen. Dabei vermutet nicht nur der Soziologe Joachim Kersten, daß Kinder mit geringem Selbstwertgefühl in der Medienerregung über ihre „tollen Taten“ auch Bestätigung erfahren. „Was nicht wahrgenommen wird, ist ein Nichts, wer nicht auffällt, ein Niemand“, hat Christoph Türcke über die „Sensationsgesellschaft“ geschrieben. Als Reaktion auf die Gleichgültigkeit, die Kinder – streng ausgegliedert aus der Erwachsenenwelt – täglich erleben, wäre ihre Randale durchaus schlüssig. Medien wären demnach Teil eines über besorgte Pädagogen und Eltern vorangetriebenen „katalytischen Brutalisierungsprozesses“. Nur ein Ursachenaspekt, für den aber ansteigende Kurven ausländerfeindlicher Übergriffe nach der öffentlichen Empörung über Rostock und Solingen ebenso sprechen wie der oft unverhohlene Stolz fast sprachloser kleiner Kämpfer beim Interview.

Die Diskussion über die symbolische Botschaft der Gewalt, auch darüber, wo Grenzen fester gezogen werden, wo gestraft und wie gegengesteuert werden muß, ist wichtig. Wer aber nicht bei dumpfen „Härter durchgreifen“-Forderungen stehenbleiben oder gar wie der Spiegel Exorzismen wie ein „Aggressions-Screening“ schon für Zweijährige anwenden will – den schicksalhaften Outcast-Stempel –, der muß genau ansehen, unter welchen verschiedenen Umständen denn altersübliche Kämpfe umkippen in rohe Gewalt. Statt dessen übt sich das Nachrichtenmagazin in der Kunst der Versoßung: Als führe ein Automatismus von jedem Raufen zum Abschlachten, werden die kleinen Schützen von Jonesboro mit „aggressiven Kindern“ (wo fängt das wohl an?) mit „gewaltverdächtigen Minis“ und Schulhof-Erpressern völlig gleichwertig verrührt. Und es wird so getan, als gäbe es keine Unterschiede zwischen einem Waldorf-Schüler, der den Sinngebungswürgegriff seiner Eltern abreagiert, und einem Bosnier aus autoritären Familienstrukturen; einem wohlstandsverwahrlosten Vorort-Sproß und einem wegen „keimiger“ Jeansmarke gehänselten Sozialhilfe-Geschwister, das den großen, vom Bundesverfassungsgericht auf den Punkt gebrachten Leitsatz der Konsumgesellschaft „Geld ist geprägte Freiheit“ verstanden hat und sich bei seinen Mitschülern welches holt.

Nicht hysterische Dämonisierung, nur Differenzierung ermöglicht ebenso differenzierte Lösungsstrategien. Und Prioritäten, die Studien eindeutig nahelegen: Die größten Risikofaktoren für Gewalt als fortdauernde Konfliktlösungsmuster sind Armut und Ausgrenzung. Je mehr sich die Gesellschaft in Habende und Habenichtse spaltet, desto mehr rasten vor allem diejenigen aus, deren Zukunftschancen am schlechtesten stehen und denen demonstriert wird, daß sie nicht gebraucht werden: junge, wenig gebildete männliche Jugendliche. Das frustrierte „überflüssige Geschlecht“: Der arbeitslose Vater beweist ja, daß der Versorger als Rollenbild nicht mehr taugt. Welches dann? Also Jungs in Wir-sind-wer- Gangs: Rechte, Geföhnte oder Muslime, von denen viele zudem unter der noch weiter ausgrenzenden Willkürfuchtel des Aufenthaltsrechts stehen. Wie einst die Halbstarken im Status-Konkurrenzkampf mit Messer und Schlagringen; der beschleunigten Entwicklung entsprechend nur jünger.

Hier zeigt sich die Verlogenheit des regelmäßigen Entsetzens über die Kindergewalt. Denn daß ihm proportionale Investitionen in gezielte Ausländerförderung, reformierte Ganztagsschulen, Integration nicht nur der Mittelstandskinder, Ausbildung und Beschäftigungsperspektiven gefolgt wären, kann man nicht sagen.

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