■ Schlagloch: Künstliche Intelligenz, optimierte Dummheit Von Klaus Kreimeier
„Man kann sich nicht nur auf den Computer verlassen, man muß auch den Computer durch menschliche Gehirne speisen, wenn man von ihm richtige Erkenntnisse erwartet“
Hanns Martin Schleyer am
11.9. 1977 in seiner letzten
Botschaft an Helmut Kohl
In Erwartung eines gewaltsamen Todes drängen sich Einsichten auf, die auf die je konkrete Situation und durch diese hindurch auf die allgemeinen Verhältnisse ein grelles Scheinwerferlicht werfen. Der im September 1977 ermordete Präsident des Arbeitgeberverbandes war nicht nur Symbolfigur für die Kontinuität deutscher Kapitalstrategien vom Faschismus bis in die 70er Jahre – er war auch ein „wertkonservativer“ Mann, dem die Computerbesessenheit des damaligen BKA-Chefs Horst Herold sehr fremd und, in den letzten Stunden seines Lebens, zutiefst verhaßt gewesen sein muß. Er ahnte, nein, er wußte wohl, daß die Rechner des von allen Parteien „hochgejubelten“ Fahndungs- Großmeisters seinen Tod längst einkalkuliert hatten.
Trotzdem wäre es falsch, sich den Krisenstab im deutschen Herbst als geschlossenen kybernetischen Regelkreis vorzustellen. Was für den damaligen Kanzler bis heute ein nicht verwundenes Trauma geblieben ist, mag der damalige Oppositionsführer als eine jener Heimsuchungen der neueren deutschen Geschichte abgebucht haben, die sich für ihn noch immer zum Guten wendeten. So ist Helmut Kohl nun mal. Herold war ein „Macher“, aber auch ein (relativ früher) Traumtänzer der neuen Technologien, „mental“ eher ein Opfer der euphorischen Phantasmagorie von der vollcomputerisierten Verbrecherjagd. Und dem Innenministerium stand der liberale Hochschulprofessor Maihofer vor, ein Zauderer und Bedenkenträger, kein Verfechter des eiskalten, High-Tech-gestützten „Augen zu und durch“-Konzepts. Das Verhältnis zwischen den Computern und den menschlichen Hirnen schien jedenfalls noch ausbalanciert. Im Deutschen Herbst ist vieles untergegangen – die Demokratie blieb, alles in allem, intakt.
Schleyers bittere Bemerkung über Herolds Computer klingt wie ein Echo auf einen Satz von Joseph Weizenbaum, dessen Buch „Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft“ just in jenem Jahr 1977 in der Bundesrepublik erschienen war: „Die Gefahr der künstlichen Intelligenz liegt nicht darin, daß Maschinen mehr und mehr wie Menschen denken, sondern daß Menschen mehr und mehr wie Maschinen denken.“ Dieser etwas angestaubte, jedenfalls nicht gerade auf der Höhe des aktuellen Zeitgeistes angesiedelte Satz macht neuerdings wieder die Runde – merkwürdigerweise vor dem Hintergrund des Schachduells zwischen Garri Kasparow und Deep Blue. Merkwürdig ist dies, weil ein Schachspieler, der gegen eine Maschine kämpft, zwar die Funktionsweise der Maschine kennen und ihrem furchterregenden Perfektionismus auf die Schliche kommen muß, im übrigen jedoch am ehesten dagegen gefeit ist, wie die Maschine zu denken. Anfällig sind eher Verwaltungsapparate, Mega-Institutionen und, wie zu befürchten ist, auch Gesellschaftsformationen, wenn sie erst einmal einen bestimmten Grad der technologisch-ökonomischen Entwicklung erreicht haben.
Die einschlägigen Erfahrungen beginnen im grauen Alltag: Ein Finanzamt, eine Einwohnermeldestelle oder irgendeine andere Behörde, die ihren Betrieb auf elektronische Datenverarbeitung „umgestellt“ hat, ist nicht mehr imstande, auf einer früheren, technisch „überholten“ Organisationsstufe zu arbeiten – auch dann nicht, wenn die Computer zusammenbrechen. Der einzelne Beamte wäre durchaus in der Lage, zum Bleistift zu greifen oder einen Leitz-Ordner zu wälzen – er tut es nicht, weil sich um ihn herum (und allmählich auch in seinem Kpf) die gesamte technische Ökologie verändert hat. Zuerst wird der Apparat vom Virus der künstlichen Intelligenz infiziert, von dort frißt er sich ins Innere der Funktionsträger – mit dem Ergebnis, daß diese nicht etwa wie hochqualifizierte Maschinen, sondern mit dem berühmten Brett vorm Kopf agieren.
Keine Frage, daß hochentwickelte Gesellschaften heute die Intelligenz der jeweils neuesten Computergeneration benötigen – aber sie können sich die spezifische Dummheit, die den Computern anhaftet und die gleichfalls mit jeder Generation optimiert wird, nicht leisten. Politik sollte darin bestehen, die Intelligenz der schnellen Rechner zu nutzen, ohne ihrer Dummheit auf den Leim zu gehen. Statt dessen assimiliert sie sich dem Mythos der Maschinen, ohne von ihrer tatsächlichen Funktion sinnvollen Gebrauch zu machen. Damit verabschiedet sie sich in der Tendenz vom gesellschaftlichen Erkenntnisprozeß – soviel Demoskopie sie immer betreiben mag. Das geht so weit, daß Innenminister Kanther, was die angeblichen Gefahren des Internet betrifft, seinen eigenen Dämonisierungen zum Opfer fällt und nach Schlüsselgewalt ruft, während er im Nebel stochert. Ein permanent im Entstehen begriffenes und sich gleichzeitig permanent verflüchtigendes Netzwerk will er mit den Mitteln des wilhelminischen Überwachungsstaats in den Polizeigriff nehmen. Daß er nicht weiß, wovon er fabuliert, mag dabei noch als ein rührend menschlicher Aspekt der Angelegenheit hingenommen werden.
Doch lächerlich ist das Ganze nicht. Daß erhebliche Teile des Regierungslagers die Legalisierung der Videoüberwachung von Privatwohnungen befürworten, ohne daß eine größere Auswanderungswelle zu befürchten ist, zeigt nur, daß Horst Herolds Sicherheitswahnsinn von anno 1977 erst die Apparate und dann nach und nach die ganze Gesellschaft eingeholt hat. Das Böse steckt nicht in der Technik, sondern darin, wie ihre Dummheit – der Schematismus ihres perfekten Funktionierens – die Verwaltungen infiziert und Politik außer Kraft setzt. Zugunsten Kanthers wollen wir einmal annehmen, daß er selbst nicht „wie eine Maschine denkt“ – aber als politischer Prototypus repräsentiert er exakt jene neue „Philosophie“, die das politische Handeln an Programme und programmierte Apparate delegiert. So läuft die Abschiebepraxis – auch nach Algerien, Nigeria oder in den Sudan – inzwischen wie eine auf Computerniveau getrimmte Guillotine, während noch immer das Recht auf Asyl als unantastbarer Grundsatz in der Verfassung steht.
Kaum jemand regt sich über diesen Widerspruch auf. Im Gegenteil, Hamburgs Bürgermeister Henning Voscherau kann, in einem der sichersten Länder der Welt, die innere Sicherheit zum zentralen Wahlkampfthema machen, „mit Mumm“ ans Rausschmeißen ausländischer Straftäter gehen und überlegen, ob er die öffentlichen Plätze in seiner Stadt nicht an Geschäftsleute verpachten soll, damit private Wachdienste das „Hausrecht“ wahrnehmen und Bettler und andere Störer endlich auf die grobe Tour aus dem Blickfeld entfernen können.
Da fehle die Moral, nörgeln die letzten Gesellschaftskritiker. Es verhält sich schlimmer. Politik wird zunehmend nicht durch künstliche Intelligenz, sondern durch die optimierte Dummheit programmierter Apparate ersetzt.
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