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■ SchlaglochDie Rache an den Achtundsechzigern Von Klaus Kreimeier

„Entlassen wir unsere

Universitäten endlich in

die Freiheit!“

Roman Herzog

Unsere Medien reagieren wie Pawlowsche Hunde. Da sind ein paar hunderttausend Studenten in den Streik getreten, einige zigtausend auf die Straße gegangen, weil sie mit Recht fürchten, daß die zuständigen Minister die Unis verrotten lassen – und schon redet alles von 68. Kaum ein Radiobericht, der nicht ins Archiv greift und mit schrillem „Ho-Ho-Ho-Chi-Minh!“ aufmacht, um sogleich zu beteuern, daß man das Unvergleichbare nicht vergleichen könne. Kein Moderator, der nicht irgendeinen Veteranen von damals aus dem Hut zieht, um dann aber nicht ihn, sondern den 23jährigen Asta-Vorsitzenden von heute zu fragen: Sagen Sie mal, welche Gemeinsamkeiten hat denn Ihr Protest mit der Studentenbewegung der 60er und 70er Jahre? Klar, daß der dann wahrheitsgemäß sagt: Keine Ahnung, damals war ich noch nicht geboren. (So ist das nun mal im heutigen Deutschland mit den Generationen. Neulich habe ich mich mit einem aufgeweckten, in seinem Fach gebildeten Uni-Absolventen unterhalten, Ende 20, der mich neugierig fragte: Was ist denn das eigentlich, der Radikalenerlaß?)

Moderatoren indessen lassen nicht so schnell locker. Sie haben ein festes Schema im Kopf und fragen weiter, als handle es sich um irgendein Ergebnis in der Fußball- Oberliga Nord Anfang der 50er Jahre: Sagen Sie mal, haben die 68er damals nicht verloren? Schweigen. Niemand in der Runde sieht sich imstande, sofort auf diesen Zug aufzuspringen; man räuspert sich erst mal und denkt über die Ambivalenz der Dinge im allgemeinen und der historischen Abläufe im besonderen nach. Dem Moderator dauert das zu lange, und so beantwortet er seine Frage gleich selbst: Nee, das war ja wohl nichts mit diesen Weltverbesserern, so viel Realitätsblindheit und dann noch dieses bis heute nicht geklärte Verhältnis zur Gewalt! Einige Studiogäste zeigen sich jetzt zumindest zu staatserhaltendem Kopfnicken bereit, so daß der Moderator seinen Trumpf aus der Tasche ziehen kann: Und diese Altlinken mit ihrem widerlegten Weltbild, ihren abgestandenen Flausen im Kopf – jetzt sitzen sie fett und ergraut auf ihren Lehrstühlen, warten auf ihre Pension und blockieren die notwendige Hochschulreform! Endlich räuspert sich, vernehmlich und unüberhörbar zustimmend, ein Vertreter der Wirtschaft. Allmählich kommt der neudeutsche Diskurs in Fahrt.

In der Diskussion über die nicht wegzuleugnende Bildungsmisere sind die politischen Altproduzenten eine (gar nicht einmal unheilige) Allianz mit den gedächtnislosen Yuppies der Wirtschaftsfraktion eingegangen und nehmen gnadenlos Rache an allem, was ihnen die Generation von 68 angetan hat. Es wäre an der Zeit, diejenigen nach den Ergebnissen zu fragen, die 1983 mit christdemokratischem Theaterdonner unserem Land eine „geistig-moralische Wende“ verordnet haben und noch immer an der Macht sind. Statt dessen setzen ihre Spürhunde in den Medien den ideologischen Bürgerkrieg der Strauß- und Kiesinger-Ära fort und zeigen mit dem Finger auf alte Feinde: Sympathisanten des Terrors damals, Terroristen der Saturiertheit heute – so etwa lautet ihr Verdikt über die erste Generation nach dem Krieg, die unserem demokratischen Gemeinwesen Inhalte und, in Grenzen, die Luft zum Atmen verschafft hat.

*

Jetzt also streiken meine Studenten. Die Hörsäle sind leer, im Hauptgebäude hängen Transparente und bringen etwas Farbe in das rauhe Ambiente von Beton, Stahl und Glas. Ich betrachte meinen Schreibtisch und stelle fest, daß ich mich plötzlich um die wesentlichen Dinge des Lebens an der Uni kümmern kann. Papierstapel aus einer Woche haben sich aufgehäuft, sie wachsen ganz von selbst. Geisterhände, so scheint es, sorgen unermüdlich für Nachschub, Fachbereichsratsprotokolle, Tagesordnungen, Senatsbeschlüsse. Stellenbedarfspläne, die studiert werden, Formulare, die ausgefüllt sein wollen. Ausschüsse, Kommissionen, vorbereitende Ausschüsse und Ad-hoc-Kommissionen – Gremienarbeit. Anforderungen des Personalrats, eine liegengebliebene Korrespondenz mit der Hausverwaltung, ein Ersuchen aus dem Kanzleramt, eine barsch formulierte Dienstanweisung von ganz oben, aus dem Ministerium: von dort, wo Richtlinien erlassen, Eckdaten verordnet und über die Einhaltung der Richtlinien und Eckdaten gewacht wird.

Papier, das darauf wartet, abermals Papier zu schaffen. Durchweg Umweltpapier, recycelbar. Die Bürokratie recycelt sich aus sich selbst. Und wächst und wächst. Selbst die angesichts der allgemeinen Finanzlage naheliegende Konsequenz, Lehre und Forschung ganz zu streichen und die Universitäten auf selbstreferentielle Verwaltungsbetriebe „herunterzufahren“, würde kaum Abhilfe schaffen, vielmehr den Selbstlauf der Administration noch dynamisieren. Brauchen wir mehr Geld? Die Studenten verlangen, Rühe solle den Eurofighter vergessen und die Milliarden Rüttgers rüberschieben. Keine schlechte Idee. Meine Befürchtung ist allerdings: Mehr Geld würde, zunächst jedenfalls, mehr Papier hecken. Mehr Gremiensitzungen, mehr Antragsformulare, mehr Administration. Unvorstellbar, daß sich US-Universitäten einen vergleichbaren Aufwand leisten würden. Mein Vorschlag: Der Staat sollte die Verkürzung der Dienstwege finanzieren und Geld, das dabei eingespart wird, in Forschung und Lehre stecken.

Eine deutsche Universität – jenseits von Staat und Politik! Unsinn: Wir dürfen den Staat – es ist ja unser Staat – nicht aus der Pflicht entlassen. Wir dürfen ihn nicht davon entpflichten, die Universitäten „endlich in die Freiheit“ zu entlassen – wie es unser Staatsoberhaupt so trefflich formuliert hat. Der Staat muß dafür sorgen, daß Forschung und Lehre anständig bezahlt werden – aber er dürfte nicht hinnehmen, daß sich die Hochschulen nach seinem Bilde verwalten, daß sie zu lauter kleinen und mittelgroßen Staatsapparaten anschwellen, mit Professoren als Ministern, Assistenten als Staatssekretären und Studenten als verwaltetem Volk. Ein Professor ist normalerweise ein Dezernatsleiter, in jedem Fall ein Regierungsbeamter, seine Sekretärin eine Regierungsangestellte. Warum eigentlich? Die Regierung regiert, das ist ihre Aufgabe – aber es gibt eine Regierungsmanie, die das Wohl des Volkes und die Einrichtungen, die ihm dienen sollen, an den Rand des Zusammenbruchs regiert.

Studienordnungen, Zulassungsordnungen, Prüfungsordnungen, Promotionsordnungen – all das muß es geben, Ordnung muß sein. Doch Ordnung funktioniert nur, wenn ihre Strukturen flexibel bleiben: wandelbar, weil sich die Wirklichkeit wandelt, weil Inhalte und Bedürfnisse in Bewegung sind. Die von den Regierungen verhängte Ordnung an Deutschlands Universitäten ist derzeit ein Prokrustesbett. Gut, daß ihr uns Geld gebt, möchte man ihnen zurufen. Es könnte durchaus etwas mehr sein. Aber gebt uns auch „endlich“ (Roman Herzog) etwas mehr Freiheit, es sinnvoll auszugeben!

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