■ Schlagloch: Wüste, rot, Tag Von Nadja Klinger
„Deutschland, unser Vaterland, wächst immer enger zusammen. Bei allen Schwierigkeiten, die es noch zu überwinden gilt, kommen wir der inneren Einheit unseres Vaterlandes Schritt für Schritt näher.“ Helmut Kohl
in seiner heutigen Neujahrs-
ansprache für 1998
Der einzige Jahreswechsel in meinem Leben fand im Oktober statt. Das Jahr 1990 setzte aus. Knallkörper aus westdeutscher Produktion hallten in den Straßen von Ostdeutschland so oft wider, daß über ihre tatsächliche Anzahl heute nur noch gemutmaßt werden kann. Feuerwerksraketen, die auf eine kalte Winternacht eingestellt gewesen waren, überschlugen sich übermütig im lauen Herbst. Dann setzte ein anderes Jahr 1990 ein.
Wie an jedem ersten Januar klingelte auch in den Morgenstunden des 3.Oktober 1990 das Telefon. Ich wußte schon vorher, daß das meine Mutter war, die wie immer unbedingt die erste sein wollte, um mir mit feierlicher Stimme das zu wünschen, was jeder Mensch haben kann: Gesundheit und Glück. „Danke, gleichfalls“, antwortete ich auf die kurze und bündige Art, mit der sich unser Gespräch dann jedesmal schnell erledigte und ich zurück ins Bett konnte. Doch diesmal legte sie nicht auf, sondern sprach statt dessen weiter. Sie redete über neue Bedingungen, kleine Sprünge, die ich machen, und Vorsorge, die ich treffen sollte. Nur so, meinte sie, könnte ich mir einiges ersparen. Mit jedem weiteren Satz verlor sich ihre feierliche Stimme mehr und mehr in Andacht. Sie meinte es zweifellos gut und ernst.
„Und was soll ich nun konkret tun?“ fragte ich schließlich. „Vergiß nicht!“ antwortete sie. „Am 31.12. ist Wüstenrot-Tag.“ Bis dahin war immer am Jahresende in meinem DDR-Leben der Fuchs erschienen. Ich saß vor dem Fernseher mit den Augen im Westsender, einer Welt, die für mich nichts als ein bunter Bildschirm war. „Nicht vergessen!“ ermahnte mich der Fuchs. „Am 31.12. ist Wüstenrot-Tag.“
Was sollte das bedeuten? Meine Eltern zuckten mit den Schultern. Und weil sie sicher waren, daß es in der DDR nie von Wichtigkeit sein würde, ob ich dem listigen Fuchs mißtraue oder nicht, schalteten sie den Fernseher einfach aus.
Dennoch zerlegte ich den Begriff in seine Einzelteile. Vielleicht würde ich ihn mir so erklären können. Ich dachte darüber nach, was den Deutschen, die nicht einmal einen Kilometer von mir entfernt lebten, der 31.12. noch anderes bedeuten konnte als mir. Doch mein Denken schien an die Mauer zu stoßen, die zwischen uns stand. Als meine Mutter sich schließlich zur Silvesterparty verabschiedete, blieb ich mit den Einzelbestandteilen Wüste, rot und Tag ratlos auf dem Sofa in unserer Wohnung zurück. „Freu dich doch darüber“, sagte sie, „daß uns hier der Fuchs nicht reinlegen kann.“
Nachdem es den einzigen Jahreswechsel in unserem Leben gab, wurde das anders. Zwischen uns und dem Fuchs ist keine Mauer mehr. Regelmäßig zum 31.12. erscheint das listige Tier und ermahnt nun auch uns, bis ans Ende zu haushalten, weil der letzte Tag des alten Jahres die besseren Sparkonditionen als der erste Tag des folgenden hat. Wir Ostler denken jetzt weiter: Wir sind mit den Konditionen vertraut.
Bausparverträge haben unsere Familien auseinandergerissen. Die Verwandtschaft hat sich in Fertigteilhäusern über den deutschen Osten verteilt. Eine geschäftliche Beziehung der Tante, in der es nach durcharbeiteten Nächten schließlich zum Äußersten kam, hat sie samt des fast volljährigen Cousins nach Nürnberg verschlagen, wo sie demnächst entbinden und mit 600 Mark monatlich in die Mutterschaft gehen wird. Der Schwager ist von einer Dienstreise nach Nordamerika nicht zurückgekehrt, die Schwester hat vor zwei Jahren geheiratet, um einen Kredit zu bekommen. Im Januar läßt sie sich wieder scheiden. „Lieber die Hälfte einer siebenstelligen Schuld, als in einer Reihenhaussiedlung zu verblöden“, sagt sie.
Selbst die Großmutter, die 70 Jahre lang nie einen Politikernamen kannte, schimpft nun unentwegt auf Theo Waigel und deponiert Geld auf Konten ihrer minderjährigen Enkel. Freiberufler wie ich erledigen von den Zinsen ihre Wochenendeinkäufe und zerbrechen sich, obwohl die Pfennige hinten und vorne nicht reichen, des öfteren den Kopf darüber, wie sie dennoch etwas sparen könnten.
Genaugenommen begann einst, mit dem einzigen Jahreswechsel von 1990 auf 1990, die Zeit im Osten stehenzubleiben wie die Eröffnungssumme am Beginn eines Sparbuches. Was seitdem an Stunden und Minuten hinzugekommen ist, wird festgespart, groß verplant und groß ausgegeben.
Die Wünsche eines jeden einzelnen in einer Familie gehen inzwischen weit über das hinaus, was jeder Mensch haben kann. Am Neujahrsmorgen wünscht die Mutter der Tochter Gesundheit und Glück und kommt dann rasch auf die Konditionen zu sprechen, die weder sie noch das Kind, aber zum Beispiel einer wie der Wüstenrot- Fuchs bestimmt.
Wir Ostler wirtschafteten uns durch den Westen. Es findet nur noch Gegenwart statt, und zwar indem gnadenlos und rasch verbraucht wird. Für die Geschäfte, in denen jedes Familienmitglied steckt, ist es vor allem wichtig, daß die Verwandten sich auch gegenseitig in Ruhe lassen. Fragen, deren Beantwortung auch zu Hause noch Streß machen, sind tabu.
So nimmt sich zum Beispiel eine Kaffeerunde in meiner Verwandtschaft wie eine Versammlung der Staatssicherheit aus. Genaueres weiß keiner, obwohl jeder von uns die wichtigsten Hinweise kennt. Zwar reden wir durchaus viel miteinander, doch jede Bewegung auf einen Moment zu, wo anstelle des Wortes wir die unverwechselbare Bezeichnung ich gebraucht werden müßte, wird ausgebremst. Wir halten Maß, berechnen, ersparen uns – was auch immer.
Und nur in den Fällen, da eines Tages plötzlich der Gewinn unseren Anstrengungen nicht mehr entspricht, da es in Nordamerika zu kalt oder im Reihenhaus zu langweilig wird, da die Mutterschaft in Nürnberg nicht mehr finanzierbar ist oder die Großmutter für die Pflege ans Eingemachte muß, erwägen wir die fast in Vergessenheit geratene Möglichkeit, daß Gesundheit und Glück uns alles bedeuten könnten.
Dann kommt Silvesterstimmung auf. Unsere Familie blickt zurück. Die Zeit bekommt die Chance, noch einmal zu wechseln. Sie setzt aus. Eine Flasche Sekt nach der anderen wird geöffnet, so daß später niemand mit Bestimmtheit sagen kann, wieviel Alkohol im Spiel war. Berauscht erinnern wir uns an früher, als bestimmte Dinge noch keinen Sinn ergaben.
„Wüste! Rot! Tag! Welchen Sinn soll das haben?“ ruft eine übermütige Stimme in die Runde. Und weil alle vor derartigen Erinnerungen irgendwie Angst haben, steigt die Stimmung, während wir sie hinter uns bringen. Die Stimme von eben überschlägt sich vor Übermut und ist, als sie landet, ernüchtert. „Die einzige Frage kann sein: Was bringt's?“
Ernüchtert setzt dieselbe Zeit wieder ein.
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