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■ SchlaglochWas bringt's? Von Nadja Klinger

„Schluß mit den rückwärtsgewandten Debatten. Wir dürfen uns nicht in ein Stimmungstief hineinmanövrieren.“ Gunda Röstel, Sprecherin der Bündnisgrünen, März 1998

Wenn ich zurückdenke, fallen mir als erstes Namen ein: Bärbel Bohley, Wolfgang Thierse, Marianne Birthler. Alles Leute, die von gestern sind. Bärbel Bohley kam 1989 mit folgenden Worten in mein Leben: „Ich will eine total veränderte DDR, in der jeder Bürger sich selbst in die Mündigkeit entläßt. Denn um nichts in der Welt lohnt es zu schweigen.“ Das war anmaßend, weil es meinte, daß der Wert des Gedanken nicht darin besteht, ob er in ein politisches Konzept paßt. Später sagte Bärbel Bohley der taz: „Ich werde versuchen, Moral in die Politik hineinzubringen.“ Über dem Text stand: Bärbel Bohley hat keine Lust auf Macht. Das war im Februar 1990 und sie schon von gestern.

Später trank sie mit Helmut Kohl Kaffee. Das brachte nichts, im Gegenteil: Die Bürgerrechtler zerstritten sich endgültig, denn das Kaffeekränzchen paßte vielen nicht in die politischen Vorstellungen. Journalisten machten sich lustig, so wie heute über die Grünen. Denn für Kohl Kaffee zu kochen war das gleiche, wie im Wahljahr den Deutschen zu empfehlen, nur einmal in fünf Jahren in die Sonne zu fliegen. Man macht es einfach, ohne zu taktieren, eben weil „es sich um nichts in der Welt lohnt zu schweigen“.

Wolfgang Thierse hält seit Jahren meinen Wahlkreis besetzt. Nicht weil das eine Hochburg der SPD ist oder hier seine Fans sind, sondern weil er hier lebt. Er geht ins Wahlbüro, von seiner Haustür aus zweimal um die Ecke, so langsam, als laufe er nur los, um immer wieder anzuhalten und mit diesem und jenem zu reden. Ansonsten hört und liest man nicht viel von ihm, keine aufsehenerregenden Reden, keine großen Lettern, aber man weiß, daß er da ist, regelmäßig nach Bonn fährt und wiederkommt. Er tut so, als ob sich Politik aus dem Zusammenleben von Menschen ergäbe, aus Kompetenz und Idealismus. Stefan Heym, der kurz vor den letzten Wahlen unvermittelt in Thierses Revier einbrach und die Mehrheit der Stimmen gewann, konnte ihm zwar das Gegenteil beweisen, scheinbar jedoch nicht überzeugen. Wolfgang Thierse ist immer noch da, ansprechbar und, wie Heym heute sagt: ein lieber und braver Mensch, aber ein „schrecklicher Langweiler“, denn er habe „noch nie jemandem weh getan, weder in Berlin noch in Bonn“. Und das ist, da muß ich Heym zustimmen, echt von gestern.

Von gestern ist alles, was keine Antwort auf die einzige Frage gibt, die heute gestellt wird: Was bringt's? Um die zu beantworten, bräuchte ich Konkretes, vielleicht eine Prognose, wenigstens ein Versprechen. Die Fakten müßten etwas enthalten, was ich selbst besitze oder herbeischaffen kann, ich müßte den Preis nennen und einen Termin setzen. So wie heute üblich, würde ich meine Vorstellungen von der Gesellschaft wie auf einem Kontoauszug darstellen und hätte nichts Dringenderes zu tun, als Soll und Haben auszugleichen.

Würde ich mich hingegen nach gestern zurückwenden, als wir unsere Zukunft darin sahen, allen Gedanken den Mantel der Moral überzuwerfen, als wir uns an Runde Tische setzten, als Marianne Birthler das erste Mal sagte: „Wir müssen die Politik wieder für die Menschen interessant machen“ ... dann geriete ich wohl mitten hinein in Gunda Röstels Stimmungstief. Denn während Marianne Birthler bei den Bündnisgrünen auch deswegen keine Rolle mehr spielt, weil sie auf die Frage, was sie konkret politisch bewirken will, immer noch mit jenem Satz antwortet, hat die Parteisprecherin verinnerlicht, daß man Grundsätze aus uralter Zeit wie Ballast mit sich herumschleppt. Man kann nicht moralisch und zugleich regierungsfähig sein. Damit die Stimmung dennoch nicht allzusehr sinkt, halten sich politische Parteien Moralapostel.

Marianne Birthler, die „Bauchschmerzen“ bekommt, wenn etwas gegen ihre Grundsätze verstößt, verstaubt in der Abseitsposition, ist aber mit auf den Mannschaftsfotos drauf, die zeigen, „wie breit“ Bündnis 90/ Die Grünen sind. Der tapfere Thierse hat wichtige politische Ämter, aber nichts, was die SPD mit Stolz zu ihrer Symbolfigur macht. Vor allem seine Gegenkandidaten schätzen ihn, da sie sicher sein können, daß er keinen Wahlkampf unter der Gürtellinie führt, weil das nicht seiner politischen Kultur entspräche.

Wo die Politik aufhört und die Realität beginnt, ist ein derartiger Selbstbetrug unmöglich. So saß ich dieser Tage auf einer Versammlung von Lehrern und Eltern einer Grundschule im Prenzlauer Berg, auf der nach langer Diskussion eine moralische Entscheidung getroffen wurde, woraufhin die Stimmung abrupt gegen Null sank. Wir hatten mit überwiegender Mehrheit abgelehnt, im und vor dem Schulgebäude Werbung installieren zu lassen. Dieser Vorschlag war zu Beginn des Wahljahres aus dem Berliner Schulsenat gekommen. Wir haben ausgerechnet, wie schnell wir mit den Werbeeinnahmen die Fenster reparieren könnten, da unsere Kinder seit Wochen im Unterricht den Anorak anbehalten müssen. Doch in der Rechnung war unser Grundsatz nicht enthalten, daß wir Schule als einen Raum verstehen, der sich moralisch von der Gesellschaft abhebt. Sollen wir nun werben, um nicht mehr zu frieren, wenn wir doch, umgedreht, nicht deshalb frieren, weil wir nicht werben? Nachdem wir das mit gutem Gewissen beantwortet und die Schule als werbefreien Raum erhalten hatten, drängte sich die nächste Frage auf: Was bringt's, was haben wir davon?

Die Antwort ist deprimierend, denn sie lautet: nur Nachteile. Unsere Moral hat keinen Wert, weil schon der Vorschlag, an der Schule zu werben, unmoralisch war. Vielleicht nehmen ihn alle anderen Schulen in der Gegend an, renovieren die Fenster, malen sich schön an, und unsere Schule hat den Konkurrenzkampf verloren. Es ist politisch gewollt, daß einer verliert, denn es gibt zu viele Grundschulen in Berlin. Es ist auch gewollt, daß wir von unseren moralischen Grundsätzen abgehen.

Wenn ich zurückdenke, fällt mir auch der Rundfunksender DT64 ein, um den die ostdeutschen Hörer Anfang der 90er kämpften. Das Wort „Mythos“ tauchte auf. Demnach wollten wir etwas behalten, nur weil es dagewesen war. DT64 war eine gemeinsame Erfahrung von Sinn, aus der nun das Einvernehmen entstanden war: Wir lassen uns das nicht wegnehmen. Natürlich taugten diese Argumente nicht für die politische Auseinandersetzung, denn sie waren von gestern. So wie auch die Gründe von gestern die taz heute von einer Anzeige der Bundeswehr abzuhalten versuchten. Was sie natürlich nicht geschafft haben. Wenn doch, dann wäre die taz jetzt im Stimmungstief wie die Grünen. Wer in unserem Land nicht untergehen will, der muß mit seiner Moral nach Bosnien gehen. Bärbel Bohley hilft den Menschen dort, Dächer auf die zerstörten Häuser zu bauen. Während zu Hause der Ballast abgeworfen und bald alles anders wird. „Wir dürfen die Wähler nicht überfordern“, sagt Lafontaine.

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