■ Schlagloch: Die Ökonomie der Knochen Von Mathias Greffrath
Sokrates riet seinen Schülern, das Studium ihrer Gesundheit sorgfältig und als Hauptsache zu betreiben; es sei kaum zu glauben, daß ein verständiger Mensch, der auf sich achte, nicht besser als jeder Arzt sollte unterscheiden können, was ihm gut- oder schlechttäte. Michel de Montaigne:
„Von der Erfahrung“
Ein Stich im Hals, wie mit einem Stilett, und das beim ersten Joggingschritt. Der Kopf ließ sich nur noch 30 Grad nach rechts drehen. Der Orthopäde hatte seit meinem letzten Besuch seinen Maschinenpark stark vergrößert; gelegentlich dürfte er nur noch Privatpatienten nehmen, sagt er, und eigentlich seien sie am Ende; bei Krankengymnastik zum Beispiel würden sie fast zuzahlen. Dann gab er mir eine Spritze, knackte an meinem Hals herum und empfahl Dehnübungen. Ein paar Monate später sagte er, jetzt müsse ich Geduld haben. Es klang wie: Auch Krüppel können den Lebensabend genießen. Und er setzte hinzu: „Na ja, ich kann ja noch ein bißchen Krankengymnastik verschreiben.“
Als aufgeklärtes Marktsubjekt beriet ich mich mit diversen Kennern ganzheitlicher Arten, Knochen zu behandeln. Eine Suhrkamp-Leserin empfahl Feldenkrais, ein höchst vernünftiges Verfahren, seinen Körper zu beobachten und so zu benutzen, wie er es gern hat – und so, weniger durch Zufall als durch Bildungsprivileg und Neue-Mitte-Zugehörigkeit, landete ich bei einer Feldenkrais- Lehrerin, die sich nicht die Bohne um meinen Hals kümmerte, sondern meine Art zu gehen studierte und den einen oder anderen Vorschlag machte. Drei Wochen später ging ich über den Winterfeldt- Markt; irgend etwas war anders als sonst – ich konnte den Kopf um zweihundert Grad drehen. Der Orthopäde rief: „Ein Wunder...“ und erzählte mir dann, daß er zu Weihnachten wieder zum Snowboardsurfen nach Kanada fliege.
Es geht hier nicht um Sozialneid, sondern um Ungleichheit. Oben Mittelschichtler, die, als kenntnisreiche Shopper auf dem Markt alternativer Gesundheitspflege, dem klassischen Programm des Hippokrates – mündig zu sein, auch was den eigenen Leib angeht – in finanzieller Eigenverantwortung folgen können und mit erheblichen Ausgaben – Theoretiker der langen Wellen sehen hier den einzigen Wachstumsmarkt der Zukunft – neben die reparierende Medizin die kluge Sorge um die Gesundheit setzen. Für die unten bleibt die AOK-Medizin, bleiben die Solarien, wo man schon ab zwei Mark dabei ist, die öffentlichen Parks und Bäder – solange sie noch nicht privatisiert sind.
Könnte rot-grüne Gesundheitspolitik das Entstehen von zwei Gesundheitsklassen verhindern: eine von gut ernährten Leistungsträgern, die mit Shiatsu, Freud und therapeutischem Reiten ihr Humankapital pflegen; und eine von blassen Familien mit dicken Kindern, denen man die Schicht an den Zähnen ansieht und die Herkunft am schwerfälligen Gang? Womit die Spaltung bekämpfen?
Mit dem, womit Linke schon immer die Ungleichheit des Marktes bekämpft haben. Mit Bildung. Auch in den goldenen Jahren haben diejenigen das Gesundheitssystem besser genutzt, die mehr wußten und deshalb mehr wollten. Wie wäre es, wenn wir den Umgang mit uns, mit unseren Extremitäten, unseren Weichteilen, unserer Haut, unseren Lustorganen in der Schule lernen würden? Mit genausoviel Unterrichtsstunden wie alle anderen sogenannten Kulturtechniken auch. Nicht irgendwann zwischendurch, als Lerneinheit in Biologie, sondern als Hauptfach. Warum delegieren wir das Lesen unserer Körper, die Chemie unserer Zellen, die Poesie unserer Hormone an Spezialisten, warum bleibt das Lesenlernen eine öffentliche Angelegenheit, aber das Lebenlernen dem Markt überlassen?
Ich stelle mir also vor: Schon im Kindergarten lernten Kinder zu spüren, daß ihre Füße keine Klötze sind, sondern aus mehr als 200 Knochen bestehen, die auf mehr oder weniger ökonomische Weise die Bodenhaftung des Körpers und seine Spannkraft regulieren; machten, einander massierend, untersuchend, kitzelnd Bekanntschaft mit ihren Organen. Bis heute sehen wir im Doktorspielen nur die präödipale Perversion – wieso eigentlich nicht eine ganz natürliche Neugier auf das Wichtigste: die Quelle von Lust und Unlust, Schmerz und Wohlbehagen, die wir selber sind? Warum nutzen wir diese Neugier der Kinder nicht, in dieser schönen Lebensspanne, bevor Ekel und Körperverdrängung einsetzen?
Ich stelle mir vor: Im Sport würde nicht nur Leistung gelehrt, sondern auch, wie man Kopfschmerzen verschwinden läßt, wie man Ruhe hält, wie die Knochen tanzen lernen. Ich stelle mir vor, Vierzehnjährige erhalten die Gelegenheit, bei einer Geburt dabeizusein; zumindest aber daneben zu stehen, wenn Kinder zum ersten Mal gebadet werden; ich stelle mir vor, wie der Schädelbruch eines Sportstars, die Zuckerkrankheit einer Lehrerin oder die Epilepsie eines Mitschülers zu Lerngegenständen im Unterricht werden; dazu vergessene Kulturtechniken wie Wadenwickel, Salbeitee und autogenes Training. Ich stelle mir vor, daß junge Menschen, wenn sie „ins Leben“ treten, die Sprache ihrer Haut und ihrer Organe verstehen. Daß sie urteilsfähig sind über die Angebote der klassischen Medizin und ihrer Alternativen; daß sie wissen: Pharma ist nur der kleinste Teil; daß sie etwas gelernt haben über die Zusammenhänge von Armut und Gesundheit, von Streß und Immunabwehr, von richtig leben und gesund sein. Und auch ein wenig vom Sterben.
Utopisch? Eher finde ich es merkwürdig, daß wir über zwei oder drei der wichtigsten Dinge im Leben sowenig lernen in der Schule: Medizin, Recht, Wirtschaft. Denn gerade wenn es richtig ist, daß Betrieb und Staat den einzelnen nicht mehr halten, daß jeder auf dem Markt nach sich selbst sehen muß, gerade dann kommt es darauf an, diese einzelnen für den Markt instand zu setzen. Wir brauchen Gesundheitslehrer in der Schule, breit ausgebildet in Medizin, Selbstsorge und lebenserfahren; eine phantasievolle Kommission, von Ministerin Fischer eingesetzt, sollte mal die Kostenersparnis kalkulieren, die auf uns zukäme, wenn jeder seinen Körper, also sich, so ernst nähme wie sein Auto. Und jede Menge Ärzte würden gebraucht – als Lebenslehrer in Schulen, die dem sozialdemokratischen Ideal der „Schule der Nation“ wieder ein Stück näher kämen.
Ach ja, kürzlich traf ich meinen Orthopäden, zwischen Bordeaux- Abteilung und Käsetheke im KaDeWe. Frisch, federnd, einer, dem man die Fünfzig nicht ansieht. „Natürlich“, sagte er, „in vielem sind die ganzheitlichen Verfahren uns überlegen. Aber in den Ausschüssen, die Leistungen definieren, dominiert die Mafia des alten Denkens.“ Ich habe ihn nicht gefragt, wohin er diesmal Weihnachten fliegt. Es geht ja nicht um Sozialneid. Eher schon um die Frage, ob in der Neuen Mitte, ob in den aufgeklärten Eliten noch einmal Formen der sozialen und politischen Bewegung entstehen könnten, die genausoviel Spaß machen wie Snowboardsurfen in Kanada – oder Joggen im November.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen